1. Hilfe durch Verfahrensaussetzung
Um es vorweg zu sagen: Nicht für alle Schnittstellen und Konfliktfelder des Strafrechts zum Steuerrecht gibt es einfache Lösungen. Dennoch lassen sich einige Probleme, wie sie sich z.B. aus den eingangs dargestellten Sachverhalten ergeben, auf Anhieb lösen, will man nicht um jeden Preis nur im eigenen Garten agieren. Wir reden dabei über eine Vorschrift, die weitegehend von der Praxis außer Kraft gesetzt wird, nämlich der Regelung in § 396 AO.
2. Was will die Vorschrift des § 396 AO?
Wenn die Beurteilung der Tat als Steuerhinterziehung davon abhängt, ob ein Steueranspruch besteht, ob Steuern verkürzt oder ob nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt sind, so kann nach § 396 Abs. 1 AO das Strafverfahren ausgesetzt werden, bis das Besteuerungsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist. Über die Aussetzung entscheidet im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft, im Verfahren nach Erhebung der öffentlichen Klage das Gericht, das mit der Sache befasst ist (§ 396 Abs. 2 AO). Während der Aussetzung des Verfahrens ruht die Verjährung (§ 396 AO). In einem Bußgeldverfahren gilt die Vorschrift entsprechend (§ 410 Abs. 1 Nr. 5 AO).
Beraterhinweis Der Zweck des § 396 AO liegt darin, widersprüchliche Entscheidungen bei der Anwendung des Steuerrechts im Besteuerungs- und im Steuerstrafverfahren zu vermeiden (so etwa OLG Karlsruhe v. 14.12.1984 – 3 Ws 138/84, NStZ 1985, 227). Zumindest einen Nebeneffekt beinhaltet der Umstand, dass die Aussetzung des Strafverfahrens auch prozessökonomische Aspekte mitverfolgen kann. Ist erst einmal im Besteuerungsverfahren der Sachverhalt mühsam aufgeklärt worden, muss möglicherweise dieser Aufwand nicht noch einmal betrieben werden. Vielmehr kann man sich auf die strafrechtlichen Aspekte des Falles konzentrieren. Allerdings besteht keinerlei Bindung an die steuerlichen Feststellungen (BayObLG v. 3.3.2004 – 4St RR 8/2004, wistra 2004, 239).
3. Welche Voraussetzungen müssen zur Verfahrensaussetzung gegeben sein?
Die Vorschrift des § 396 AO basiert auf einer Unsicherheit in der Beurteilung steuerlicher Fragen. U.E. schließt dies auch Zweifel an der Höhe der Steuerverkürzung ein, da auch gerade davon eine Bestrafung abhängt (anders etwa Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 396 Rz. 3), wie die in unterschiedlichen Versionen kursierenden Strafmaßtabellen zeigen (dazu etwa Brauns in Recht - Wirtschaft - Strafe, FS für Erich Samson, 2010, S. 515 ff.; Minoggio, PStR 2003, 212 ff.).
4. Wann greift die Regelung des § 396 AO?
§ 396 Abs. 2 AO eröffnet die Möglichkeit der Aussetzung des Strafverfahrens in den unterschiedlichen Verfahrensstadien des Ermittlungsverfahrens oder des gerichtlichen Verfahrens. Unterschiedlich sind die entscheidenden Personen: Im Ermittlungsverfahren ist die Staatsanwaltschaft zuständig, im gerichtlichen Verfahren das zur Entscheidung berufene Gericht. Erstaunlich, wenn auch möglich: Soweit das Ermittlungsverfahren von der Finanzbehörde selbständig durchgeführt wird (§ 386 Abs. 2 AO), tritt diese an die Stelle der Staatsanwaltschaft. Allerdings ist schwer vorstellbar, dass etwa die Steuerfahndung (als "Kavallerie" der Ermittlungsbehörden) von dieser Ermächtigung Gebrauch macht, wenn es bisweilen auch ratsam wäre, etwa die Entscheidung zu einer Rechtsfrage in einem finanzgerichtlichen Verfahren abzuwarten.
5. Muss die steuerliche Situation geklärt sein?
a) Ermessen bei Verfahrensaussetzung
Die Antwort lautet Nein. § 396 AO spricht davon, dass die zur Entscheidung berufene Stelle aussetzen "kann". Es besteht also ein Ermessen (vgl. Harms/Heine in Mellinghoff/Schön/Viskorf (Hrsg.), Steuerrecht im Rechtsstaat, FS für Wolfgang Spindler, 2011, S. 429 ff.). Das Bundesverfassungsgericht spricht von "Vorfragenkompetenz" (BVerfG v. 15.10.1990 – 2 BvR 385/87, NJW 1992, 35; s.a. BVerfG v. 15.4.1985 – 2 BvR 405/85, NJW 1985, 1950) und verweist auf frühere, engere Regelungen (dazu Hellmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 396 AO, Rz. 1 [Okt. 2020]. Andererseits könnten auch die Finanzbehörden und Finanzgerichte ihrerseits das Besteuerungsverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens gem. § 363 Abs. 1 AO bzw. § 74 FGO aussetzen.
b) Ermessensreduzierung?
Wir wollen es an dieser Stelle weitgehend dabei belassen und uns darauf aufbauend mit der Frage befassen, ob es eine Reduzierung auf null gibt. Dies wird mit durchaus beachtlichen Argumenten vertreten (Blumers, DB 1983, 1571; Felix, FR 1985, 31; Isensee, NJW 1985, 1007; Podewils, wistra 2015, 257) So kann etwa das Finanzgericht oder die Finanzbehörde selbst wegen ernstlicher Zweifel im Besteuerungsverfahren die Aussetzung der Vollziehung (§§ 361 AO, 69 FGO) verfügen. Es mutet in der Tat äußerst mutig an, wenn hier der Strafrichter oder die Staatsanwaltschaft über einen Wissensvorsprung verfügen wollen, der gegen eine Aussetzung spricht. Wo sollte der herkommen? Natürlich sind strafrechtliche Methoden vielfach äußerst wirksam. Man denke nur an die Wirkkraft einer Untersuchungshaft. Befindet sich der Beschuldigte einmal in dieser La...