Mord ohne Leiche – Steuerhinterziehung ohne Steuerverkürzung?
[Ohne Titel]
Prof. Dr. Peter Bilsdorfer / Michael Kaufmann, Saarbrücken
Der äußerst zurückhaltende Umgang vieler Staatsanwälte und Strafgerichte im Steuerstrafverfahren mit der Regelung der Aussetzung des Verfahrens nach § 396 AO ist kaum nachvollziehbar. Die Autoren schildern die Vorteile nicht nur für den Beschuldigten, sondern auch für Staatsanwälte und Gerichte.
I. Einführung
Im dem kleinen und letztlich auch feinen Saarland wurde vor vielen Jahren eine bekannte Unterweltgröße namens Hugo Lacour zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Verurteilung erfolgte wegen Mordes, ohne dass man je die Leiche des Opfers oder die Tatwaffe jemals gefunden hatte. Derartige Szenarien sind im Rechtsalltag keineswegs selten. Sie sind aber nicht auf das spektakuläre Feld der Tötungsdelikte konzentriert; nein, auch bei Steuerdelikten können Sachverhalte auftreten, die die Frage aufwerfen, ob eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung (§ 370 AO) möglich ist, ohne dass eine Steuerverkürzung nachgewiesen ist. Die Antwort ist in der Tat erstaunlich, denn derartiges kommt vor, wenn es auch Mittel und Wege gibt, ein solch gewiss nicht optimales Geschehen zu vermeiden.
II. Zwei praktische Fälle
Um sofort den Nachweis zu führen, dass es zu einer Verurteilung ohne (nachgewiesene) Steuerverkürzung kommen kann, wollen wir kurz zwei aktuelle Fälle darstellen:
(a) Die Eheleute M und F werden vor Bestands- oder Rechtskraft der Steuerfestsetzungen wegen mittäterschaftlich begangener Steuerhinterziehung vom Amtsgericht (AG) verurteilt. Die Berufung ist anhängig. Parallel hierzu beschließt das zuständige Finanzgericht (FG) die Aussetzung der Vollziehung der auf die Eheleute einzeln lautender Steuerbescheide, weil ernstliche Zweifel an der Annahme der jeweiligen Steuerpflicht i.S.v. § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EStG von M und F bestünden, da möglicherweise steuerlich von einer Mitunternehmerschaft (§ 15 Abs. 3 EStG) auszugehen sei.
(b) Die Eheleute A und B streiten um die Frage, ob das einkommensteuerliche Besteuerungsrecht Deutschland oder Frankreich zusteht. In einem Termin vor dem FG äußert die Berichterstatterin Zweifel am Vorliegen einer Steuerhinterziehung. Das AG erlässt dennoch auf Antrag der Staatsanwaltschaft Strafbefehle wegen Steuerhinterziehung gegen beide Eheleute.
III. Die grundlegenden Strukturen – die Theorie und die Praxis
Das Steuerstrafrecht ist "Blankettstrafrecht". So kurz und prägnant formuliert es der BGH (BGH v. 19.4.2007 – 5 StR 549/06, NStZ 2007, 595), um in der Folge auszuführen, was das bedeutet: Der Unterschied zu anderen Straftatbeständen liege darin, dass erst das Blankettstrafgesetz und die blankettausfüllenden Normen zusammen die maßgebliche Strafvorschrift bilden. Deshalb müsse sich der im Steuerstrafverfahren tätige Richter selbst mit den blankettausfüllenden Normen des materiellen Steuerrechts befassen und diese auf den Einzelfall anwenden (dazu auch Jäger, StraFo 2006, 477). Jäger formuliert es äußerst treffend (Jäger, StraFo 2006, 477): Die Kenntnis strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Vorschriften reiche für die Beurteilung von Steuerstraftaten nicht aus. Vielmehr müsse sich der im Steuerstrafverfahren tätige Richter mit den blankettausfüllenden Normen des materiellen Steuerrechts befassen und diese auf den Einzelfall anwenden (dazu auch explizit und kritsch gegenüber der Realität Wenzler, AO-StB 2019, 116). Wer sich als gestandener Strafrechtler dem Steuerstrafrecht nähere, merke schnell, dass er viel dazulernen muss. Keine andere Blankettstrafnorm sei mit einem so umfangreichen, komplizierten und einem ständigen Wandel unterworfenen Rechtsgebiet verbunden wie das Steuerstrafrecht mit dem materiellen Steuerrecht und seinen Bezügen zum EG-Recht. Nachgerade abschreckend für die, die am Anfang einer Annäherung im Sinne dieser Vorgaben agieren, mag es denn auch wirken, dass der BGH dieses präsente Wissen nicht nur für die inländischen Steuernormen verlangt. Würden Blankettstraftatbestände – wie in den Fällen des § 370 Abs. 6 AO und des § 374 Abs. 2 AO – nicht nur durch deuts...