1. Anwendungsbereich
Grundvoraussetzung Einspruchsverfahren: Damit eine Präklusionsfrist i.S.d. § 364b Abs. 1 AO überhaupt gesetzt werden kann, bedarf es eines anhängigen Einspruchsverfahrens. Dies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut, nach welchem dem Einspruchsführer eine (Präklusions)-Frist gesetzt werden kann, als auch aus der systematischen Stellung der Vorschrift im Siebenten Teil und Zweiten Abschnitt der AO, wo Verfahrensvorschriften des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens niedergeschrieben sind. Ist kein Einspruch anhängig, so kann folglich auch keine Präklusionsfrist vom FA gesetzt werden.
Ergänzender Charakter: Die Vorschrift § 364b AO ist als Ergänzung und Konkretisierung zu den allgemeinen Mitwirkungspflichten von Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren zu betrachten, wozu u.a.
- die Abgabe von Steuererklärungen und -anmeldungen (§§ 149, 150 AO),
- die generelle Mitwirkungs- und Auskunftspflicht (§§ 90, 93 AO), aber auch
- die Vorlagepflicht von Urkunden und anderen Beweismitteln (§ 97 AO)
gehören. Diese Vorschriften gelten nicht nur im Veranlagungs- oder Feststellungsverfahren, sondern sinngemäß auch im Einspruchsverfahren (vgl. § 365 Abs. 1 AO).
Keine Präklusionsfrist gegenüber Hinzugezogenen: Eine Präklusionsfrist kann nicht gegenüber Hinzugezogenen i.S.d. § 360 Abs. 1, 3 AO gesetzt werden, da diese zwar nach § 360 Abs. 4 AO dieselben Rechte geltend machen können wie der Einspruchsführer selbst, jedoch nicht Einspruchsführer sind und die Fristsetzung dem Wortlaut nach nur gegenüber Einspruchsführern erfolgen kann (zustimmend, dass Hinzugezogenen keine Präklusionsfrist gesetzt werden kann, dies jedoch nicht näher begründend Seer in Tipke/Kruse AO/FGO, § 364b AO Rz. 17 [Feb. 2021] und AEAO zu § 364b Nr. 2; zustimmend und hierzu ebenfalls auf den Wortlaut der Vorschrift abstellend Rätke in Klein, AO, 17. Aufl. 2023, § 364b AO Rz. 3).
2. Das Entschließungsermessen des FA als Ausgangspunkt
Entschließungsermessen des FA: Ob das FA im Rahmen eines anhängigen Einspruchsverfahrens von der Setzung einer Präklusionsfrist i.S.d. § 364b Abs. 1 AO Gebrauch macht, liegt aufgrund des Wortlauts der Norm ("kann") im pflichtgemäßen Ermessen des FA (§ 5 AO). Hierbei ist insb. der dargestellte Normzweck, dass die Vorschrift dem Missbrauch des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens vorbeugen soll, indem Stpfl. "ins Blaue hinein" Einspruch einlegen und z.B. weder ihre Beschwer konkretisieren noch entscheidungserhebliche Unterlagen beibringen, zu berücksichtigen.
Darlegung der Ausübung des Entschließungsermessens: Das FA wird bei Ausübung des Entschließungsermessens festzustellen haben, ob zumindest Anhaltspunkte ersichtlich sind, die darauf hinweisen, dass der Einspruchsführer seinen Einspruch nur eingelegt hat, um das Besteuerungsverfahren zu verschleppen und nicht ernstlich um Rechtsschutz ersucht.
Mögliche Verschleppungsabsicht in Schätzungsfällen: Dies ist beispielsweise denkbar, wenn der Einspruchsführer keine Steuererklärung abgegeben hat, daraufhin vom FA geschätzt worden ist und gegen den Schätzungsbescheid Einspruch eingelegt hat, ohne jedoch im Zuge dessen eine Steuererklärung einzureichen. Durch die Betreibung des Einspruchsverfahrens hält der Einspruchsführer den Schätzungsbescheid zwar einerseits offen, jedoch kommt andererseits auch in Betracht, dass der Einspruch vordergründig der Verfahrensverschleppung (Zeitgewinn) dient. Denn durch die Einlegung des Einspruchs selbst, die internen Abläufe im FA (Abgabe an die Rechtsbehelfsstelle, Zuweisung des Einspruchs an einen Sachbearbeiter), zu erwartenden Schriftverkehr etc. ist es möglich, dass der Einspruchsführer sich vielmehr einen Zeitgewinn verschaffen möchte, ehe er die Steuererklärung abgibt, als ernstlich um Rechtsschutz zu ersuchen (ebenfalls auf eine Verfahrensverschleppung zwecks Zeitgewinn als sachfremdes Motiv, das jedoch vom FA festzustellen ist, abstellend u.a. FG Nds. v. 27.2.1997 – X 128/96; FG Köln v. 6.6.2014 – 15 K 2180/13).
Da eine etwaige Missbrauchs- und Verschleppungsabsicht jedoch eine innere Haltung des Einspruchsführers darstellt, die für das FA nur schwerlich nachweisbar ist, sind aus Verfassersicht – insb. in Schätzungsfällen ohne Abgabe von Steuererklärungen im Einspruchsverfahren – keine allzu hohen Hürden an die Darlegung der Verschleppungsabsicht zu stellen, solange das Entschließungsermessen nicht evident ermessensfehlerhaft ausgeübt wird (ähnlich Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 364b AO Rz. 19 [Feb. 2021], welcher in Schätzungsfällen, ohne dass im Einspruchsverfahren eine Steuererklärung abgegeben wird, eine Vermutung dafür sieht, dass es dem Einspruchsführer nur um einen Zeitgewinn geht).
Weitere Anzeichen für eine Verschleppungsabsicht: Eine Verschleppungsabsicht kann sich hierbei insb. auch aus dem früheren Verhalten des Einspruchsführers ableiten lassen, wenn dieser z.B. dauerhaft geschätzt wird, immer Einspruch einlegt, aber entweder gar nicht oder erst im späten Verlauf des Einspruchs- oder eines nachgelagerten Klageverfahrens die entsprechenden Steuererklärungen abgibt. Auch wenn das Einspru...