Darüber hinaus ist nach (wohl) h.M. das ungeschriebene Merkmal der Unkenntnis der zuständigen Finanzbehörde vom Sachverhalt in den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO hineinzulesen (FG Düsseldorf v. 26.5.2021 – 5 K 143/20 U, wistra 2021, 331; OLG Köln v. 31.1.2017 – 1 RVs 253/16, NZWiSt 2017, 317; OLG Oldenburg v. 10.7.2018 – 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79; a.A. Roth, NZWiSt 17, 308; Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 60b). Dieses setzt voraus, dass die Finanzbehörde infolge der Aufklärungspflicht gem. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen worden sein muss.
Die Finanzbehörde ist dann nicht in Unkenntnis, wenn der Verkürzungserfolg durch eigenes Tätigwerden der Behörde auf der Grundlage ihres Wissens tatsächlich vermieden werden kann. Die Kenntnis der steuerlich erheblichen Tatsachen muss also so konkret und beweisbar sein, dass sie durch die Finanzbehörde in einer Steuerfestsetzung (evtl. über eine Schätzung nach § 162 AO) umgesetzt werden kann (vgl. Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 271 [Okt. 2021]).
Beraterhinweis Höchstrichterlich ist – zumindest für den Fall der Steuerverkürzung durch Unterlassen – bisher nicht entschieden, ob es für die Beurteilung der Tatbestandsmäßigkeit einer Steuerverkürzung durch Unterlassen auf die Kenntnis der zuständigen Finanzbehörde von allen steuerlich relevanten Tatsachen ankommt bzw. in den Tatbestand das ungeschriebene Merkmal "Unkenntnis" der Finanzbehörde vom wahren Sachverhalt hineinzulesen ist (vgl. für Fälle der aktiven Steuerhinterziehung gem. § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO BGH v. 21.11.2012 – 1 StR 391/12, wistra 2013, 107). Allerdings lassen zwei Entscheidungen des BGH zu § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO den Rückschluss zu, dass nach Ansicht des BGH auf eine Kenntnis oder Unkenntnis der Finanzbehörden abzustellen oder das ungeschriebene Merkmal der "Unkenntnis" der Finanzbehörde vom wahren Sachverhalt in den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO hineinzulesen ist (BGH v. 21.11.2012 – 1 StR 391/12, NStZ 2013, 411; v. 14.12.2010 – 1 StR 275/10, NStZ 2011, 408; Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 576.1 [Okt. 2021]).
Das Urteil des FG Düsseldorf vom 26.5.2021: Vor diesem Hintergrund ist das Urteil des FG Düsseldorf vom 26.5.2021 zu sehen (FG Düsseldorf v. 26.5.2021 – 5 K 143/20 U, wistra 2021, 331). Das FG hat entschieden, dass der objektive Tatbestand einer durch die Nichtabgabe von Steuererklärungen begangenen Steuerhinterziehung durch Unterlassen voraussetze, dass der zuständige Bearbeiter der Finanzbehörde im Zeitpunkt des Abschlusses der regelmäßigen Veranlagungsarbeiten für den maßgeblichen Zeitraum von den wesentlichen steuerlich relevanten Umständen keine Kenntnis habe. Dieses Tatbestandsmerkmal der Unkenntnis der Finanzbehörde liege nicht vor, wenn ein Steuerpflichtiger, der durch die laufende Vermietung von mehr als 100 Garagen- und Außenstellplätzen unternehmerisch tätig ist, pflichtwidrig keine Umsatzsteuererklärungen abgibt, zugleich aber in den maßgeblichen Veranlagungszeiträumen den umsatzsteuerlich erheblichen Sachverhalt (mit Ausnahme der abzugsfähigen Vorsteuerbeträge) durch die Abgabe von ertragsteuerlichen Feststellungserklärungen gegenüber der Finanzbehörde vollständig und zeitgerecht deklariert habe.
Kenntnis des FA: Damit folgt das FG Düsseldorf der vom OLG Köln (OLG Köln v. 31.1.2017 – 1 RVs 253/16, NZWiSt 2017, 317) bzw. OLG Oldenburg (OLG Oldenburg v. 10.7.2018 – 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79) vertretenen Auffassung, wonach eine vollendete Steuerhinterziehung durch Unterlassen i.S.v. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO in den Fällen ausscheidet, in denen die Finanzbehörden zum maßgeblichen Veranlagungszeitraum von den wesentlichen steuerlich relevanten Umständen bereits Kenntnis haben. Anders hatte dies zuvor das BayObLG entschieden. Nach seiner Ansicht werde der Straftatbestand der Steuerhinterziehung i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO im Fall der Nichtabgabe von Steuererklärungen allenfalls dann nicht verwirklicht, wenn der für die Steuerfestsetzung zuständige Veranlagungsbeamte vor Veranlagungsschluss über die positive Kenntnis aller Tatsachen und Beweismittel verfügt, die für eine zutreffende Steuerfestsetzung erforderlich seien (BayObLG v. 14.3.2002 – 4St RR 8/2002, wistra 2002, 393).
Zeitpunkt der Kenntnis: Maßgeblich ist nach Ansicht des FG Düsseldorf insoweit der Kenntnisstand des jeweiligen Bearbeiters in dem Zeitpunkt, zu dem das zuständige FA die Veranlagungsarbeiten für den fraglichen Besteuerungszeitraum im Wesentlichen abgeschlossen hat (Zeitpunkt der Vollendung). Denn entscheidend für die Vollendung einer Steuerhinterziehung i.S.v. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO entsprechend ihrem Charakter als echtes Unterlassungsdelikt (Erfolgsdelikt) ist der Zeitpunkt, in dem der Steuerpflichtige bei pflichtgemäßer Abgabe der Steuererklärung spätestens veranlagt worden wäre; erst dann ist im Regelfall die rechtzeitige Festsetzung der Steuer vereitelt und der Verkürzungserfolg eingetreten (FG Düsseldorf v. 26.5.202...