1. Allgemeines
Echtes Unterlassungsdelikt und Sonderdelikt: § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO normiert ein echtes Unterlassungsdelikt (BGH v. 22.5.2003 – 5 StR 520/02, wistra 2003, 344; Krumm in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 370 AO Rz. 63 [April 2019]; Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 60a; Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 271 [Okt. 2021]). Wegen der Anknüpfung an eine besondere Handlungspflicht ist der Tatbestand zugleich ein Sonderdelikt (BGH v. 7.11.2006 – 5 StR 164/06, wistra 2007, 112; v. 24.10.2002 – 5 StR 600/01, wistra 2003, 100; Krumm in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 370 AO Rz. 23 [April 2019]; a.A. Timpe, HRRS 2018, 243), da Täter nur derjenige sein kann, der auch die Pflicht zur Mitteilung bzw. Offenbarung steuerlich erheblicher Tatsachen hat (sog. Garantenstellung). Gerade deshalb ist die Abgrenzung zur Begehungsvariante in § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, die ein sog. Jedermannsdelikt ist, in der Praxis von herausragender Bedeutung (Krumm in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 370 AO Rz. 63 [April 2019]). Zwar lässt derjenige, der Einnahmen erklärt, aber zugleich andere Einnahmen verschweigt, die Finanzbehörde in Unkenntnis. Allerdings ist dieser Fall unter § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO zu subsumieren, da der Steuerpflichtige die Vollständigkeit seiner Angaben versichert, obwohl dies in tatsächlicher Hinsicht nicht zutreffend ist (Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 60). Die Steuerhinterziehung durch Unterlassen gem. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO erfasst hingegen typischerweise nur solche Fälle, bei denen der Steuerpflichtige insgesamt untätig bleibt, obwohl ihn eine zumutbare Handlungspflicht trifft.
Den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO erfüllt, wer
- die Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen pflichtwidrig in Unkenntnis lässt. Die steuerliche Erheblichkeit ist dann gegeben, wenn die Tatsachen, die Ermittlung, Erhebung oder Beitreibung einer Steuer betreffen (vgl. Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz. 228 f. [Okt. 2021]).
- Weiterhin muss der Täter in der Lage sein, diese Unkenntnis zu beseitigen, und dies unterlassen.
- Schließlich muss er zur Beseitigung der Unkenntnis verpflichtet sein (Joecks in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. 2015, § 370 AO Rz. 230).
2. Tatbestandsmerkmale im Einzelnen
a) Aufklärungspflicht
Die Pflicht zum Handeln ergibt sich für den Steuerpflichtigen regelmäßig aus den Steuergesetzen. In der Praxis besonders häufig vorkommende Aufklärungspflichten ergeben sich z.B. aus § 18 UStG, §§ 56 bis 60 EStDV, § 49 Abs. 1 KStG, § 25 GewStDV, § 19 VStG, § 31 ErbStG, Art. 79 Abs. 3 UZK bzw. aus der AO (z.B. §§ 134, 135, 138, 139, 150, 153, 200 AO; vgl. hierzu Meyer in Gosch, AO/FGO, § 370 AO Rz. 99 [Aug. 2012]). Darüber hinaus ist in der Praxis insb. die Anzeige- und Berichtigungspflicht nach § 153 AO als Pflicht i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO zu beachten.
Bei vorsätzlichem Verstoß gegen die Anzeige- und Berichtigungspflicht nach § 153 Abs. 1 S. 1 AO oder die Anzeigepflicht nach § 153 Abs. 2 AO liegt ab dem Zeitpunkt des Erkennens der objektiv unrichtig abgegebenen Erklärung bzw. des ganz oder teilweisen Wegfalls einer Steuervergünstigung eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen vor (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO; AEAO zu § 153 Nr. 5.3 Satz 1). Beachten Sie: Neben den strafrechtlichen Folgen ist dabei auch die Verlängerung der Festsetzungsfrist von vier auf zehn Jahre nach § 169 Abs. 2 S. 2 AO von praktischer Bedeutung.
Gesetzliche Grundlage: Wie zuvor dargestellt, ergibt sich die Aufklärungspflicht bzw. Erklärungspflicht für die Umsatzsteuer aus § 18 UStG. Der Unternehmer hat grundsätzlich für jeden Voranmeldungszeitraum sog. Umsatzsteuervoranmeldungen abzugeben, in denen er die Steuer für diesen Zeitraum (Vorauszahlung) selbst zu berechnen hat, vgl. § 18 Abs. 1 S. 1 UStG. Darüber hinaus hat der Unternehmer für das Kalenderjahr die Umsatzsteuerjahreserklärung abzugeben (vgl. Stadie in Rau/Dürrwächter, UStG, § 18 Rz. 21 [Sept. 2020]). Ausgehend von § 18 Abs. 2 S. 1 UStG, wonach der Voranmeldungszeitraum das Kalendervierteljahr ist, bedarf es in unklaren Sachverhalten für die Annahme, dass der Voranmeldungszeitraum gem. § 18 Abs. 2 S. 2 UStG der Kalendermonat ist, tragfähiger Feststellungen zum Voranmeldungszeitraum durch das Gericht (BGH v. 7.9.2016 – 1 StR 57/16, wistra 2017, 158).
Die Aufklärungspflicht nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO korrespondiert regelmäßig mit der Unternehmereigenschaft i.S.d. § 2 UStG; hängt aber auch davon ab, ob und ggf. zwischen welchen Personen Lieferungen und sonstige Leistungen nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG ausgeführt wurden (Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370 Rz. 370b). Darüber hinaus können sich für den gesetzlichen Vertreter bzw. den Vermögensverwalter gem. § 34 UStG und für den Verfügungsberechtigten § 35 UStG (Umsatzsteuerliche-)Erklärungspflichten ergeben.
Organschaft: Im Falle einer umsatzsteuerlichen Organschaft i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG treffen den Organträger sämtliche sich aus § 18 UStG ergebenden Erklärungspflichten (BGH v. 19.3.2013 – 1 StR 318/12, wistra 2013, 463; Jäger in Klein, AO, 15. Aufl. 2020, § 370...