1. Abstrakte Voraussetzungen
Eine Wiedereröffnung ist grundsätzlich angezeigt, wenn durch ihre Ablehnung wesentliche Prozessgrundsätze verletzt würden, so z.B. wenn der Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör verletzt würde oder wenn die Sachaufklärung noch nicht ausreicht (BFH v. 4.4.2001 – XI R 60/00, BStBl. II 2001, 706, Rz. 15; v. 7.7.2006 – IV B 94/05, BFH/NV 2006, 2266, Rz. 4; dann zugleich Ermessensreduktion auf null, s. unten). Demgegenüber dient die Wiedereröffnung nicht dazu, Versäumnisse der Beteiligten zu kompensieren und nachträglichen Sachvortrag zu ermöglichen (BFH v. 3.9.2001 – GrS 3/98, BStBl. II 2001, 802, Rz. 82). Daher ist die mündliche Verhandlung nicht wiederzueröffnen, wenn nachträglich Tatsachen mitgeteilt (BFH v. 29.6.2006 – VII R 50/04, BFH/NV 2006, 1865, Rz. 3, m.w.N.) oder Beweismittel benannt werden (BFH v. 8.10.2003 – VII B 321/02, BFH/NV 2004, 499, Rz. 12 f.) die auch schon bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung hätten vorgetragen werden können.
2. Kasuistik
Die Rechtsprechung ist naturgemäß durch eine Vielzahl von Einzelfallentscheidungen geprägt, die sich nicht immer zu einem abstrakten Prinzip erheben lassen. Wer sich auf einschlägige Rechtsprechung berufen will, wird hier noch sorgfältiger als sonst zu prüfen haben, ob der der jeweiligen Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt tatsächlich vergleichbar ist. Gleichwohl dürfte die höchstrichterliche Rspr. Anhaltspunkte dafür geben, wie hoch im Einzelfall die Hürden für eine Wiedereröffnung liegen.
So wurde die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beispielsweise in folgenden Situationen für erforderlich gehalten:
- Erstmaliger und überraschender Hinweis in der mündlichen Verhandlung, zu dem insb. wegen der konkreten Umstände kein sofortiger detaillierter Sachvortrag und Beweisantritt in der mündlichen Verhandlung zu erwarten war (BFH v. 4.4.2001 – XI R 60/00, BStBl. II 2001, 706 Rz. 15 ff.)
- Beteiligter entschuldigt sein Ausbleiben in der mündlichen Verhandlung hinreichend und vor Wirksamwerden des Urteils; Ausnahme: Verschleppungsabsicht (BFH v. 8.4.1998 – VIII R 32/95, BStBl. II 1998, 676 Rz. 63 und 67 mit Verweis auf BVerwG v. 11.11.1970, V C 81.69, juris Rz. 3 f.)
- Änderung des angefochtenen Bescheides i.S.d. § 68 S. 1 und 4 FGO
- Ergehen eines Beiladungsbeschlusses (BFH v. 8.10.1998 – VIII R 67/96, BFH/NV 1999, 497, Rz. 8 ff.; v. 8.6.2015, I B 13/14, BFH/NV 2015, 1695 Rz. 9 ff.)
- Nichtigerklärung einer entscheidungserheblichen Norm durch das BVerfG (BFH v. 2.12.1998 – X R 9/96, BFH/NV 1999, 1213, Rz. 18)
Hingegen wurde eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung in folgenden Situationen für nicht erforderlich gehalten:
- Antrag mit dem Ziel weiterer Sachaufklärung und Hinweis auf unter Umständen vorhandene Erkenntnisquellen, aber ohne Darlegung entscheidungserheblicher Tatsachen, Beweisanträge oder nachvollziehbare Angaben zu den beabsichtigten weiteren Sachverhaltsermittlungen (BFH v. 7.7.2006 – IV B 94/05, BFH/NV 2006, 2266, Rz. 6 ff.)
- Nicht glaubhaft gemachte Behauptung eines Beteiligten, an der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung unverschuldet gehindert gewesen zu sein (BFH v. 14.1.2016 – III B 48/15, juris Rz. 11 f.: gesundheitliche Gründe; BFH v. 26.2.1997 – IV B 105/96, BFH/NV 1997, 679, Rz. 4: Verkehrsstau).
- In der mündlichen Verhandlung erstmalig bekannt gewordene Tatsachen, die aber aus Sicht des FG nicht entscheidungserheblich waren (BFH v. 24.5.2005 – X B 170/04, juris Rz. 13 ff.)
- Schriftsatz mit dem nach der mündlichen Verhandlung angekündigt wird, zur erfolgten Beweiserhebung mit separatem Schreiben in Kürze weiter vorzutragen (BFH v. 12.6.2014 – XI B 133/13, BFH/NV 2014, 1560 Rz. 31 ff.)
- Verzicht auf weitere mündliche Verhandlung (BFH v. 15.10.2008 – X B 106/08, BFH/NV 2009, 40 Rz. 5)