Leitsatz
1. Der Diebstahl von Waren stellt keine "Lieferung von Gegenständen gegen Entgelt" i.S.v. Art. 2 der 6. EG-RL dar und kann daher nicht als solcher der Mehrwertsteuer unterliegen. Der Umstand, dass Waren wie diejenigen, um die es im Ausgangsverfahren geht, einer Verbrauchsteuer unterliegen, hat hierauf keinen Einfluss.
2. Die einem Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 27 Abs. 5 der 6. EG-RL erteilte Ermächtigung zur Durchführung von Maßnahmen zur Erleichterung der Kontrolle der Erhebung der Mehrwertsteuer ermächtigt diesen Staat nicht dazu, andere Umsätze als die in Art. 2 dieser Richtlinie aufgeführten der Mehrwertsteuer zu unterwerfen. Eine solche Ermächtigung kann daher keine Rechtsgrundlage für eine nationale Regelung darstellen, mit der der Diebstahl von Waren aus einem Steuerlager der Mehrwertsteuer unterworfen wird.
Normenkette
Art. 2 Nr. 1der 6. EG-RL , Art. 5 Abs. 1 der 6. EG-RL (vgl. § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 UStG)
Sachverhalt
Newman betrieb in Antwerpen ein Steuerlager, in dem Tabakwaren gelagert wurden, die von BATI, der Eigentümerin dieser Waren, in Belgien hergestellt und verpackt worden waren. Auf diesen Waren war keine Steuerbanderole angebracht.
Die belgische Zoll- und Verbrauchsteuerverwaltung erhob für die fehlenden Zigaretten Verbrauchsteuer und Mehrwertsteuer und berief sich auf eine belgische Regelung. Das belgische Gericht hatte Zweifel bezüglich deren Vereinbarkeit mit der 6. EG-RL.
Entscheidung
Die Entscheidung des EuGH bestätigt die in Deutschland herrschende Rechtsauffassung, dass Diebstahl keine Lieferung ist.
Hinweis
1. Art. 5 Abs. 1 der 6. EG-RL definiert als Lieferung: "die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen". Die Besprechungsentscheidung betrifft den Diebstahl von Tabakwaren aus einem belgischen Steuerlager. Grund für die Vorlage war eine Regelung im belgischen Recht, wonach der Anspruch auf Mehrwertsteuer für Tabakwaren zum selben Zeitpunkt entsteht wie der Anspruch auf die Verbrauchsteuer; letztere entsteht mit der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr oder mit der Feststellung von Fehlmengen, wobei als Überführung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren in den steuerrechtlich freien Verkehr jede – auch unrechtmäßige – Entnahme der Waren aus dem Verfahren der Steueraussetzung gilt.
Für das deutsche Umsatzsteuerrecht ist nur die Bestätigung der Auffassung von Bedeutung, dass Diebstahl keine Lieferung ist; denn Diebstahl von Waren bedeutet schon begrifflich, dass der Bestohlene keine finanzielle Gegenleistung für den Verlust erhält. Diebstahl kann deshalb nicht als Lieferung von Gegenständen "gegen Entgelt" i.S.v. Art. 2 der 6. EG-RL betrachtet werden (Rdnr. 33).
Des Weiteren kann von einer – wie erforderlich – "Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen", nicht die Rede sein. Der Diebstahl von Waren macht aus dem Täter nur deren Besitzer; er befähigt ihn nicht, über die Waren wie ihr Eigentümer zu verfügen. Der Diebstahl kann daher nicht zu einer Übertragung vom Bestohlenen auf den Täter im Sinn der erwähnten Bestimmung der Richtlinie führen.
Auch der Grundsatz der steuerlichen Neutralität gebietet nicht, den Diebstahl von Waren einer Lieferung von Gegenständen gleichzustellen (vgl. Rdnr. 37). Abgesehen von der Einfuhr und Lieferung von Gegenständen, die wegen ihres Wesens oder ihrer besonderen Merkmale verboten sind (wie nach der Rechtsprechung des EuGH Falschgeld und Betäubungsmittel), unterliegen auch die rechtswidrige Einfuhr und Lieferung der Mehrwertsteuer, da diese Gegenstände in den erlaubten Handel gebracht und in den Wirtschaftskreislauf einbezogen werden können.
Wird die gestohlene Ware eingeführt oder verkauft, unterliegt dieser Umsatz der Umsatzsteuer. In diesen Fällen entsteht die Mehrwertsteuer jedoch, weil der Steuertatbestand, der in der rechtswidrigen Einfuhr oder der Lieferung gestohlener Waren besteht, nach dem Diebstahl erfüllt worden ist und weil die Gegenleistung für diesen Vorgang, die die Besteuerungsgrundlage darstellt, bestimmbar ist. Der Diebstahl als solcher stellt jedoch für sich keinen Steuertatbestand dar.
Dass die gestohlenen Waren einer Verbrauchsteuer unterliegen, hat keinen Einfluss auf den Steuertatbestand der Mehrwertsteuer.
2. Kaum überraschend ist die Aussage des EuGH, dass Art. 27 Abs. 5 der 6. EG-RL, wonach zwar ein Mitgliedstaat ermächtigt werden kann, Modalitäten der Vorauszahlung der Mehrwertsteuer mittels Steuerbanderolen durchzuführen, diese Erlaubnis aber nicht dazu berechtigt, auf der Grundlage dieser Ermächtigung andere Umsätze als die in Art. 2 der 6. EG-RL aufgeführten Mehrwertsteuer zu unterwerfen – d.h. neue Umsatzsteuertatbestände zu erfinden.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 14.7.2005, Rs. C-435/03 – British American Tobacco International Ltd und Newman Shipping & Agency Company (NV)