Leitsatz
1. Eine Rückstellung wegen eines im Klageweg gegen den Kaufmann geltend gemachten Anspruchs ist nicht aufzulösen, bevor die Klage rechtskräftig abgewiesen worden ist. Dies gilt auch, wenn der Kaufmann in einer Instanz obsiegt hat, der Prozessgegner gegen diese Entscheidung aber noch ein Rechtsmittel einlegen kann. Rechtsmittel ist auch eine Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision.
2. Ein nach dem Bilanzstichtag, aber vor dem Tag der Bilanzerstellung erfolgter Verzicht des Prozessgegners auf ein Rechtsmittel "erhellt" nicht rückwirkend die Verhältnisse zum Bilanzstichtag (insoweit Aufgabe der Grundsätze der Senatsentscheidung vom 17.1.1973, I R 204/70 (BStBl II 1973, 320).
Normenkette
§ 5 Abs. 1 Satz 1 EStG , § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB , § 249 Abs. 3 Satz 2 HGB , § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB
Sachverhalt
Die Klägerin, eine GmbH, betrieb einen Systembau. Im Jahr 1988 wurde sie von der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes VVAG auf die Zahlung von Beiträgen zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft in Anspruch genommen. Die Kasse verklagte die Klägerin beim ArbG auf Auskunft über die Zahl ihrer Arbeitnehmer und die beitragspflichtigen Bezüge in der Zeit von Juni 1987 bis Februar 1989.
Am 12.7.1989 wurde die Klägerin vom ArbG zur Auskunftserteilung verurteilt und für den Fall der Nichterfüllung zu einer Entschädigungszahlung an die Z verpflichtet. Das ArbG vertrat die Ansicht, der Betrieb der Klägerin falle in den Bereich des allgemeinen Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe.
Gegen dieses Urteil legte die Klägerin Berufung zum LAG ein. Am 7.9.1990 fand dort die mündliche Verhandlung statt. In dieser Sitzung wurde das Urteil verkündet, wonach die Vorentscheidung des ArbG abgeändert, die Klage abgewiesen sowie die Kosten der Kasse auferlegt wurden.
Die schriftliche Ausfertigung des Berufungsurteils mit Gründen wurde dem Prozessvertreter der Klägerin am 31.1.1991 zugestellt. Das LAG war der Ansicht, die Kasse sei beweisfällig geblieben. Ihr Beweisangebot sei zu unbestimmt gewesen. Die Revision gegen sein Urteil ließ das LAG nicht zu. Nach der beigefügten Rechtsmittelbelehrung konnte die unterlegene Partei jedoch innerhalb eines Monats nach der Zustellung des Urteils Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision einlegen. Dies ist nicht geschehen.
In ihrer Bilanz zum 31.12.1989 bildete die Klägerin eine Rückstellung für – aufgrund des Urteils des ArbG – zu erwartende Entschädigungszahlungen an die Kasse unter Einbezug des nachfolgenden Zeitraums von März bis November 1989, daneben für Anwalts- und Prozesskosten. In der Bilanz zum 31.12. des Streitjahrs 1990 führte die Klägerin diese Rückstellung fort.
Dem folgte das FA nicht. Es vertrat die Auffassung, die Rückstellung sei im Streitjahr 1990 sowohl hinsichtlich der Entschädigungszahlungen, als auch hinsichtlich der Prozesskosten aufzulösen.
Entscheidung
Der BFH gab der Klägerin Recht. Gem. § 249 Abs. 3 Satz 2 HGB sei eine in früheren Wirtschaftsjahren gebildete Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten aufzulösen, sobald nach den Verhältnissen am Bilanzstichtag die Gründe für ihre Bildung und demgemäß Beibehaltung nicht mehr bestehen. Danach entscheide sich auch steuerlich, ob die Rückstellung aufzulösen oder beizubehalten sei. Ob das ursprüngliche Risiko der Inanspruchnahme entfallen sei, sei auf der Grundlage objektiver, am Bilanzstichtag vorliegender und spätestens bei Aufstellung der Bilanz erkennbarer Tatsachen aus der Sicht eines sorgfältigen und gewissenhaften Kaufmanns zu beurteilen.
Werde ein Anspruch wie im Streitfall gerichtlich geltend gemacht, lägen die Voraussetzungen für die Auflösung einer deswegen gebildeten Rückstellung so lange nicht vor, als dieser Anspruch nicht rechtskräftig abgewiesen worden sei. Dies gelte vor allem, wenn bereits eine gerichtliche Entscheidung zu Ungunsten des Kaufmanns ergangen sei. Daran ändere nichts, wenn dieser zwischenzeitlich in einer weiteren Instanz obsiegt habe, diese Entscheidung aber noch nicht rechtskräftig sei.
Denn so lange der Prozessgegner gegen die letzte Entscheidung ein (statthaftes) Rechtsmittel einlegen könne, bestehe für den Kaufmann ein von ihm regelmäßig nicht einzuschätzendes Risiko, dass in der nächsten Instanz ein für ihn ungünstiges Urteil ergehe, aufgrund dessen er in Anspruch genommen werde. Die Beibehaltung der Rückstellung folge daher dem Grundsatz der Vorsicht (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB).
Als mögliches Rechtsmittel des Prozessgegners sei nach ergangenem Berufungsurteil auch eine Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision (Nichtzulassungsbeschwerde) beim zuständigen Bundesgericht (hier: BAG) zu werten. Sie hemme die Rechtskraft der Vorentscheidung; habe sie Erfolg, eröffne sie dem Prozessgegner die Revision. Ihr komme daher rechtsgestaltende Wirkung zu, ebenso wie umgekehrt auch einem Verzicht des Prozessgegners auf die Einlegung der Beschwerde.
Könne der Prozessgegner noch ein Rechtsmittel einlegen, komme eine Auflösung der Rückstellung daher ausnahmsweise nur dann in Betracht,...