Leitsatz
Ein gem. § 363 Abs. 2 Satz 2 AO kraft Gesetzes ruhendes Einspruchsverfahren kann nach § 363 Abs. 2 Satz 4 AO fortgesetzt werden. Eine solche Entscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzbehörde. Diese muss daher ihre Er-messenserwägungen offenlegen.
Normenkette
§ 363 Abs. 2 AO, § 102 Satz 2 FGO
Sachverhalt
Die Klägerin erhob gegen den ESt-Bescheid 2001 wegen verschiedener Streitfragen, u.a. wegen der von ihr erstrebten Abziehbarkeit der Rentenversicherungsbeiträge als vorweggenommene Werbungskosten bei den sonstigen Einkünften, Einspruch. Gleichzeitig beantragte sie, das Einspruchsverfahren bis zu den Entscheidungen über diverse beim BVerfG, BFH und bei FG anhängige Musterverfahren ruhen zu lassen.
Das FA wies den Einspruch am 10.7.2003 als unbegründet zurück.
Es führte in der Einspruchsentscheidung aus, dass ein Ruhen des Verfahrens ausscheide, weil die von der Klägerin angeführten "Musterverfahren" entweder bereits abgeschlossen seien oder Fragen beträfen, die im Streitfall nicht einschlägig seien.
Mit der dagegen erhobenen Klage begehrte die Klägerin im Hauptantrag die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung sowie hilfsweise den Abzug ihrer Rentenversicherungsbeiträge als vorweggenommene Werbungskosten bei den Renteneinkünften. Das FG wies die Klage in vollem Umfang ab (EFG 2006, 240). Die Revision der Klägerin hatte im Hauptantrag Erfolg.
Entscheidung
Die Voraussetzungen für eine Zwangsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO hätten vorgelegen. Wegen der auch im Streitfall entscheidungserheblichen Frage nach der Abziehbarkeit von Rentenversicherungsbeiträgen als vorweggenommene Werbungskosten sei im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung ein Verfahren vor dem BFH (Az. X R 45/02) anhängig gewesen. Dieses Verfahren dauere noch heute fort.
Der angefochtene ESt-Bescheid sei hinsichtlich dieser Streitfrage auch nicht vorläufig (i.S.v. § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO) ergangen.
Zur Fortsetzung des somit kraft Gesetzes ruhenden Einspruchsverfahrens habe das FA eine Ermessensentscheidung treffen müssen und hierbei begründen müssen, warum das Interesse der Finanzbehörde an einer Fortsetzung des Einspruchsverfahrens das von der Klägerin bekundete Interesse an einer weiteren Verfahrensruhe überwogen habe.
Daran fehle es im Streitfall. Stattdessen habe das FA das Einspruchsverfahren mit der unzutreffenden Bemerkung fortgesetzt, dass die von der Klägerin geltend gemachten Ruhensgründe nicht gegeben seien.
Hinweis
Ist beim EuGH, BVerfG oder einem obersten Gerichtshof des Bunds ein für den Ausgang des Einspruchsverfahrens vorgreiflicher "Musterprozess" anhängig, so führt dies gem. § 363 Abs. 2 Satz 2 AO "automatisch" zu einem Ruhen des Einspruchsverfahrens, es sei denn, dass der angefochtene Steuerbescheid hinsichtlich der streitigen Frage nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufig erging. Gleichwohl ist die Finanzbehörde auch in einem solchen Fall der sog. Zwangsruhe nicht zwingend daran gehindert, das Einspruchsverfahren fortzusetzen.
Diesem Verfahrensfortgang muss jedoch eine begründete Ermessensentscheidung der Finanzbehörde vorausgehen bzw. zugrunde liegen, in welcher die Behörde die für und gegen eine weitere Verfahrensruhe streitenden Interessen der Verfahrensbeteiligten darlegen und gegeneinander abwägen muss (h.M.; vgl. z.B. FG Hamburg, Urteil vom 28.11.2005, VII 126/02, EFG 2006, 786; Klein/Brockmeyer, Abgabenordnung, Kommentar, 9. Auflage, § 363 Rz. 23; Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 363 AO Rz. 28; a.A. z.B. von Wedelstädt, DB 1994, 1260). Daran mangelte es im Streitfall, weil das FA – rechtsirrig – bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO verneint hatte.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 26.9.2006, X R 39/05