Dr. Birger Brandt, Prof. Jürgen Brandt
Leitsatz
Die Einziehung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis kann auch dann persönlich unbillig sein, wenn zwar deren Durchsetzung wegen des Vollstreckungsschutzes ausgeschlossen ist, die Steuerrückstände den Steuerpflichtigen aber hindern, eine neue Erwerbstätigkeit zu beginnen und sich so eine eigene, von Sozialhilfeleistungen unabhängige wirtschaftliche Existenz aufzubauen.
Normenkette
§ 227 AO
Sachverhalt
Die Einkünfte der Kläger wurden wegen Nichtabgabe der Steuererklärung geschätzt. Ihren nach Betriebsveräußerung gestellten Antrag auf "Erlass der Steuerschuld", der auch unter Hinweis auf die Ablehnung einer Taxikonzession wegen der Steuerschulden begründet wurde, lehnten FA und OFD ab, weil wegen ihrer schlechten Vermögensverhältnisse eine Vollstreckung nicht drohe und deshalb eine Erlassbedürftigkeit nicht gegeben sei.
Nach Erhebung der Klage erließ das FA einen Teil der Säumniszuschläge. Das FG erließ die Säumniszuschläge im Übrigen wegen gegebener Ermessensreduzierung auf null und hob die Bescheide des FA sowie der OFD auf.
Entscheidung
1. Im Streitfall war der Antrag der Kläger auf Erlass der "restlichen Steuerschuld" auch als Antrag auf Erlass der Säumniszuschläge auszulegen. Dazu hatte die OFD aber keine Entscheidung getroffen, sondern insoweit nur eine Entscheidung des FA in Aussicht gestellt. Obwohl damit eine OFD-Entscheidung zum Erlass der Säumniszuschläge nicht vorlag, konnte nach Auffassung des BFH auch insoweit Klage erhoben werden, ohne dass der Einwand fehlenden Vorverfahrens zu erheben war. Denn auch mit einer unvollständigen Rechtsbehelfsentscheidung ist das außergerichtliche Vorverfahren förmlich abgeschlossen.
Würde in derartigen Fällen der förmliche Abschluss des Verfahrens verneint, könnten die Steuerpflichtigen – wie der BFH zu Recht ausführt – nur unter den erschwerten Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 FGO gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen, obwohl sie auf die Vollständigkeit der Rechtsbehelfsentscheidung keinen Einfluss nehmen können. Der Schutz des Steuerpflichtigen, den § 44 Abs. 1 FGO nicht zuletzt anstrebt, würde sich dadurch ins Gegenteil verkehren.
2. Im Hinblick darauf, dass FA und OFD nicht die Möglichkeit eines (vollständigen) Erlasses aus Gründen persönlicher Billigkeit geprüft haben, obwohl der Kläger vorgetragen hatte, dass der Fortbestand der Steuerschulden Hindernis gewesen sei für die Erteilung zur Existenzsicherung notwendigen Taxikonzession, hat der BFH die Ablehnung des weitergehenden (über 50 % der Steuerschulden hinausgehenden) Erlasses als ermessensfehlerhaft ansehen müssen.
Hinweis
Der Erlass von Säumniszuschlägen nach § 277 AO gehört zu den Ermessensentscheidungen, die den Finanzbehörden allenfalls bei einer Ermessensreduzierung auf null und dann nur im Weg der Verpflichtung zum Erlass einer entsprechenden Verfügung aufzugeben sind, nicht aber – wie im Streitfall – vom Gericht selbst vorgenommen werden können (BFH, Urteil vom 26.10.1994, X R 104/92, BStBl II 1995, 297).
Nach Auffassung des BFH kommt bei Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung allenfalls ein Erlass von bis zu 50% der Steuerschulden aus sachlichen Billigkeitsgründen in Betracht. Nur ausnahmsweise ist ein weitergehender Erlass der Säumniszuschläge bei zusätzlichen besonderen Gründen persönlicher oder sachlicher Billigkeit denkbar, z.B. wenn die Voraussetzungen für einen Verzicht auf die Festsetzung von Stundungszinsen aus Billigkeitsgründen nach § 234 Abs. 2 AO erfüllt gewesen wären oder die Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Fälligkeit der Hauptforderung erlassbedürftig und – anders als im Streitfall – erlasswürdig gewesen wären. Selbst wenn – wie im Streitfall – mangels Zahlungsfähigkeit eine Vollstreckung wegen der Steuerschulden nicht zu besorgen ist, kann gleichwohl ein vollständiger Erlass in Betracht kommen, wenn der Erlass im Einzelfall unverzichtbare Voraussetzung für die Aufnahme einer neuen (selbstständigen) existenzsichernden Erwerbstätigkeit ist.
Ohne Prüfung, ob ein entsprechender substanziierter Vortrag einen Erlass aus Gründen persönlicher Unbilligkeit zur Folge hat, ist eine ablehnende Entscheidung regelmäßig ermessensfehlerhaft. Denn in einem solchen Fall ist der Erlass mit einem wirtschaftlichen Vorteil für den Kläger verbunden, wirkt sich also auf seine Existenz konkret aus und verschafft damit auch Steuerpflichtigen in vorgerücktem Alter die erforderliche Möglichkeit zum Wiederaufbau einer Existenz und der Vorsorge für den Lebensabend (Tipke/Kruse, AO/FGO, § 227 AO Rz. 101).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 27.9.2001, X R 134/98