Entscheidungsstichwort (Thema)
Einfuhr, Entstehung der Zollschuld, Anmeldung zum externen gemeinschaftlichen Versandverfahren, Versäumnis der Beendigung des Versandverfahrens, Zoll- und Einfuhrumsatzsteuerentstehungstatbestand im Hamburger Freihafen
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 61 Unterabs. 1 und Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2007/75/EG des Rates vom 20. Dezember 2007 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die Bezugnahme auf „[ein] Verfahren oder [eine sonstige] Regelung im Sinne“ des Art. 156 Freizonen umfasst.
2. Art. 71 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2007/75 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass bei der Entziehung einer Ware aus der zollamtlichen Überwachung innerhalb einer Freizone weder Einfuhrmehrwertsteuertatbestand noch -anspruch eintreten, wenn die Ware nicht in den Wirtschaftskreislauf der Europäischen Union überführt wurde, was festzustellen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
3. Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2007/75 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass dann, wenn eine Zollschuld gemäß Art. 203 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 geänderten Fassung entsteht und es aufgrund der im Ausgangsverfahren gegebenen Umstände ausgeschlossen ist, dass sie zum Entstehen einer Mehrwertsteuerschuld führt, eine Anwendung von Art. 204 des Zollkodex allein zu dem Zweck, den Eintritt des Steuertatbestands dieser Steuer zu rechtfertigen, nicht in Betracht kommt.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 61 Abs. 1, Art. 71 Abs. 1
Beteiligte
Verfahrensgang
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuerrecht ‐ Mehrwertsteuer ‐ Externes Versandverfahren ‐ Beförderung von Waren über einen Freihafen in einem Mitgliedstaat ‐ Regelung dieses Mitgliedstaats, nach der die Freihäfen nicht zum nationalen Steuergebiet gehören ‐ Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung ‐ Entstehung der Zollschuld und Mehrwertsteueranspruch“
In der Rechtssache C-571/15
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hessischen Finanzgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. September 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 6. November 2015, in dem Verfahren
Wallenborn Transports SA
gegen
Hauptzollamt Gießen
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richterin M. Berger sowie der Richter A. Borg Barthet (Berichterstatter), E. Levits und F. Biltgen,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Wallenborn Transports SA, vertreten durch Rechtsanwalt B. Klüver,
‐ der griechischen Regierung, vertreten durch E. Tsaousi und A. Dimitrakopoulou als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Caeiros, M. Wasmeier und L. Grønfeldt als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Dezember 2016
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 61 Unterabs. 1 und Art. 71 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2007/75/EG des Rates vom 20. Dezember 2007 (ABl. 2007, L 346, S. 13) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie von Art. 203 Abs. 1 und Art. 204 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den die Wallenborn Transports SA (im Folgenden: Wallenborn) gegen das Hauptzollamt Gießen (Deutschland) führt. Gegenstand dieses Rechtsstreits ist die Tatsache, dass Wallenborn dazu verpflichtet wurde, infolge der Entstehung einer Zollschuld die Mehrwertsteuer zu entrichten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Mehrwertsteuerrichtlinie
Rz. 3
In Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
d) die Einfuhr von Gegenständen.“
Rz. 4
Art. 5 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der zu ihrem Titel II („Räumlicher Anwendungsbereich“) gehört, bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
(1) ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gebiet der Gemeinschaft‘ das Gebiet aller Mitgliedstaaten im Sinne der Nummer 2;
(2) ‚Mitgliedstaat‘ und ‚Gebiet eines Mitgliedstaats‘ das Gebiet jedes Mitgliedstaats der Gemeinschaft, auf den der Vertrag zur Gründung der E...