Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Arbeitszeitgestaltung. Begriffe ‚Arbeitszeit’ und ‚Ruhezeit’. Pausenzeit, in der ein Arbeitnehmer binnen zwei Minuten einsatzbereit sein muss. Vorrang des Unionsrechts
Normenkette
Richtlinie 2003/88/EG
Beteiligte
Dopravní podnik hl. m. Prahy |
Dopravní podnik hl. m. Prahy, akciová společnost |
Tenor
1. Art. 2 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass die einem Arbeitnehmer während seiner täglichen Arbeitszeit gewährte Ruhepause, in der er, wenn nötig, binnen zwei Minuten einsatzbereit sein muss, als „Arbeitszeit” im Sinne dieser Bestimmung einzustufen ist, wenn sich aus einer Gesamtwürdigung der relevanten Umstände ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während dieser Ruhepause auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie objektiv gesehen ganz erheblich seine Möglichkeit beschränken, die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen.
2. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, nachdem seine Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht aufgehoben wurde, nach dem nationalen Verfahrensrecht bei seiner Entscheidung an die Rechtsauffassung dieses übergeordneten Gerichts gebunden ist, wenn diese mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obvodní soud pro Prahu 9 (Stadtbezirksgericht Prag 9, Tschechische Republik) mit Entscheidung vom 3. Januar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Februar 2019, in dem Verfahren
XR
gegen
Dopravní podnik hl. m. Prahy, akciová společnost,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters E. Juhász in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten sowie der Richter C. Lycourgos (Berichterstatter) und I. Jarukaitis,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Dopravní podnik hl. m. Prahy, akciová společnost, vertreten durch L. Novotná,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Pavliš als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und K. Walkerová als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Februar 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen XR und der Dopravní podnik hl. m. Prahy, akciová společnost (im Folgenden: DPP) über deren Weigerung, an XR einen Betrag von 95 335 tschechischen Kronen (CZK) (ca. 3 600 Euro) zuzüglich Verzugszinsen als Vergütung für die im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit zwischen November 2005 und Dezember 2008 genommenen Ruhepausen zu zahlen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 4 und 5 der Richtlinie 2003/88 heißt es:
„(4) Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.
(5) Alle Arbeitnehmer sollten angemessene Ruhezeiten erhalten. Der Begriff ‚Ruhezeit’ muss in Zeiteinheiten ausgedrückt werden, d. h. in Tagen, Stunden und/oder Teilen davon. Arbeitnehmern in der [Europäischen Union] müssen Mindestruhezeiten – je Tag, Woche und Jahr – sowie angemessene Ruhepausen zugestanden werden. …”
Rz. 4
Art. 1 der Richtlinie 2003/88 bestimmt:
„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.
(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind
- die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten, der Mindestjahresurlaub, die Ruhepausen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie
- bestimmte Aspekte der Nacht- und der Schichtarbeit sowie des Arbeitsrhythmus.
…”
Rz. 5
Art. 2 („Begriffsbestimmungen”) der Richtlinie 2003/88 sieht vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie sind:
1. Arbeitszeit: jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt;
2. Ruhezeit: jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit;
…
5. Schichtarbeit: jede Form der Arbeitsgestaltung kontinuierlicher oder nicht kontinuierlicher Art mit Belegschaften, bei der Arbeitnehmer nach einem bestimmten Zeitplan, auch im Rotationsturnus, sukzessive an den gleichen Arbeitsstellen eingesetzt werden, so dass sie ihre Arbeit innerhalb eines Tages oder Wochen umfassenden Zeitraums zu unterschi...