Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Berichtigung des Vorsteuerabzugs. Verlängerter Berichtigungszeitraum für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden. Begriff ‚Investitionsgüter’. Befugnis der Mitgliedstaaten, Dienstleistungen, die Merkmale aufweisen, die den üblicherweise Investitionsgütern zugeschriebenen vergleichbar sind, wie Investitionsgüter zu behandeln. Arbeiten zur Erweiterung und Renovierung eines Gebäudes. Im innerstaatlichen Recht vorgesehene Möglichkeit, solche Arbeiten dem Bau oder dem Erwerb eines Grundstücks gleichzustellen. Einschränkungen. Ermessen
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 187, 190
Beteiligte
Belgischer Staat/Federale Overheidsdienst Financiën |
Verfahrensgang
Hof van Beroep te Gent (Belgien) (Beschluss vom 28.06.2022; ABl. EU 2023, Nr. C 261/9) |
Tenor
1. Der im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegte Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung über die Berichtigung der Vorsteuerabzüge entgegensteht, nach der der gemäß Art. 187 für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, festgelegte verlängerte Berichtigungszeitraum nicht auf Bauleistungen, die als Dienstleistungen im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie der Mehrwertsteuer unterliegen, anwendbar ist, die eine umfangreiche Erweiterung und/oder tiefgreifende Renovierung des Gebäudes mit sich bringen, auf das sich die Bauleistungen beziehen, und deren rechtliche Auswirkungen eine wirtschaftliche Nutzungsdauer haben, die der wirtschaftlichen Nutzungsdauer eines neuen Gebäudes entspricht.
2. Der im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität ausgelegte Art. 190 in Verbindung mit Art. 187 der Richtlinie 2006/112/EG
ist dahin auszulegen, dass
ihm unmittelbare Wirkung in dem Sinne zukommt, dass sich ein Steuerpflichtiger vor einem nationalen Gericht gegenüber der zuständigen Steuerbehörde auf ihn berufen kann, damit auf die zu seinen Gunsten erbrachten Bauleistungen, die als Dienstleistungen im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie der Mehrwertsteuer unterliegen, der für Grundstücke, die als Investitionsgüter erworben wurden, vorgesehene längere Berichtigungszeitraum angewandt wird, wenn die Behörde es unter Berufung auf eine nationale Regelung wie die in der ersten Frage genannte abgelehnt hat, diesen längeren Berichtigungszeitraum anzuwenden.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van Beroep te Gent (Appellationshof Gent, Belgien) mit Entscheidung vom 28. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 18. April 2023, in dem Verfahren
Belgische Staat/Federale Overheidsdienst Financiën
gegen
L BV
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer sowie der Richterin L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. März 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der L BV, vertreten durch H. Casier und S. Gnedasj, Advocaten,
- der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, P. Cottin und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia, M. Björkland und C. Zois als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Juni 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 187 und 189 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem belgischen Staat/Federale Overheidsdienst Financiën (Föderaler Öffentlicher Dienst Finanzen) (im Folgenden: Steuerbehörde) und der L BV über die Dauer des Berichtigungszeitraums, der für den Abzug der Mehrwertsteuer gilt, die auf Arbeiten an einem von der L BV für ihre wirtschaftliche Tätigkeit genutzten Gebäude entrichtet wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Sechste Richtlinie
Rz. 3
Art. 20 Abs. 2 und 4 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG) (ABl. 1977, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 (ABl. 1995, L 102, S. 18) und die Richtlinie 2006/69/EG des Rates vom 24. Juli 2006 (ABl. 2006, L 221, S. 9) geänderten Fassung (im Folgenden „Sechste Richtlinie”), die durch die Mehrwertsteuerrichtlinie aufgehoben und ersetzt wurde, bestimmte:
„(2) Für Investitionsgüter wird eine Berichtigung vorgenommen, die sich auf einen Zeitraum von fünf Jahren einschließ...