Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Zweifel an der Leistungsfähigkeit des Rechnungsausstellers, Versagung des Vorsteuerabzugs wegen unbewiesener Leistungsfähigkeit des Rechnungsausstellers
Leitsatz (amtlich)
1. Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist in dem Sinne auszulegen, dass sie ausschließt, dass ein Steuerpflichtiger die Mehrwertsteuer abzieht, die in den von einem Leistenden ausgestellten Rechnungen ausgewiesen ist, wenn die Leistung zwar erbracht worden ist, sich aber herausstellt, dass sie nicht tatsächlich von diesem Leistenden oder seinem Subunternehmer bewirkt worden ist, insbesondere weil diese nicht über das erforderliche Personal sowie die erforderlichen Sachmittel und Vermögenswerte verfügten, die Kosten ihrer Leistung in ihrer Buchführung nicht dokumentiert wurden oder die Unterschrift der Personen, die bestimmte Dokumente als Leistende unterzeichnet haben, sich als falsch erwiesen hat, sofern zwei Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich diese Umstände den Tatbestand eines betrügerischen Verhaltens erfüllen und aufgrund der von den Steuerbehörden beigebrachten objektiven Umstände feststeht, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass der zur Begründung des Abzugsrechts geltend gemachte Umsatz in diesen Betrug einbezogen war, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
2. Wenn die nationalen Gerichte verpflichtet oder berechtigt sind, die rechtlichen Gesichtspunkte, die sich aus einer zwingenden Regel des nationalen Rechts ergeben, von Amts wegen aufzugreifen, müssen sie dies mit Bezug auf eine zwingende Regel des Unionsrechts wie diejenige tun, die von den nationalen Behörden und Gerichten verlangt, den Vorteil des Rechts auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird. Bei der Prüfung des betrügerischen oder missbräuchlichen Charakters der Geltendmachung des Abzugsrechts haben diese Gerichte das nationale Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie 2006/112 auszulegen, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen; dies verlangt, dass sie unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der in diesem anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt.
3. Die Richtlinie 2006/112 ist, soweit sie insbesondere ‐ in Art. 242 ‐ verlangt, dass jeder Steuerpflichtige Aufzeichnungen führt, die so ausführlich sind, dass sie die Anwendung der Mehrwertsteuer und ihre Kontrolle durch die Steuerverwaltung ermöglichen, in dem Sinne auszulegen, dass sie dem betreffenden Mitgliedstaat nicht verwehrt, innerhalb der in Art. 273 der Richtlinie vorgesehenen Grenzen von jedem Steuerpflichtigen zu verlangen, dass er dabei sämtliche mit den internationalen Rechnungslegungsstandards vereinbaren nationalen Rechnungslegungsvorschriften befolgt, vorausgesetzt, die insoweit erlassenen Maßnahmen gehen nicht über das hinaus, was zur Erreichung der Ziele, eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, erforderlich ist. In diesem Zusammenhang steht die Richtlinie 2006/112 einer nationalen Rechtsvorschrift entgegen, wonach eine Dienstleistung als zu dem Zeitpunkt erbracht gilt, zu dem die Voraussetzungen für die Anerkennung der Erträge aus ihr erfüllt sind.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 242, 273
Beteiligte
Direktor na Direktsia Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika Sofia |
Verfahrensgang
Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) (Urteil vom 11.12.2012; ABl. EU 2013, Nr. C 79/10) |
Tatbestand
„Steuerrecht ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Vorsteuerabzug ‐ Erbrachte Leistungen ‐ Kontrolle ‐ Leistender, der nicht über die erforderlichen Mittel verfügt ‐ Begriff ‚Steuerhinterziehung‘ ‐ Pflicht zur Feststellung der Steuerhinterziehung von Amts wegen ‐ Erfordernis der tatsächlichen Erbringung der Dienstleistung ‐ Pflicht zur Führung hinreichend ausführlicher Aufzeichnungen ‐ Streitsache ‐ Verbot für den Richter, die Steuerhinterziehung als Straftat einzuordnen und die Situation des Klägers zu verschlechtern“
In der Rechtssache C-18/13
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 11. Dezember 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Januar 2013, in dem Verfahren
Maks Pen EOOD
gegen
Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika" Sofia, vormals Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ Sofia,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça sowie der Richter G. Arestis und J.-C. Bonichot (Berichterstatter),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ des Direktor na Direktsia „O...