Entscheidungsstichwort (Thema)
Freier Dienstleistungsverkehr. Festlegung einiger Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, die im privaten Sektor Wachdienste erbringen. Vorübergehende Umsetzung von Arbeitnehmern. Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen
Normenkette
Richtlinie 96/71/EWG; EGV Art. 59 a.F.
Beteiligte
Inter Surveillance Assistance SARL |
Verfahrensgang
Tribunal correctionnel d' Arlon (Belgien) |
Gründe
1.
Das Tribunal correctionnel Arlon hat mit Urteil vom 2. April 1998, beim Gerichtshof eingegangen am 29. April 1998, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1, im Folgenden: Richtlinie) sowie der Artikel 59 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 49 EG) und 60 EG-Vertrag (jetzt Artikel 50 EG) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Strafverfahren gegen André Mazzoleni in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der Gesellschaft französischen Rechts Inter Surveillance Assistance SARL (im Folgenden: ISA) und gegen die ISA selbst als zivilrechtlich Haftende wegen Nichtbeachtung der belgischen Vorschriften über Mindestlöhne.
Die nationale Regelung
3.
Der im paritätischen Ausschuss für Wachdienste geschlossene Tarifvertrag vom 14. Juni 1993 über die Förderung der Beschäftigung und die Festlegung einiger Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, die im privaten Sektor Wachdienste erbringen (im Folgenden: Tarifvertrag), wurde durch Königliche Verordnung vom 1. März 1995 (Moniteur belge vom 4. Mai 1995, S. 11923) für verbindlich erklärt.
4.
Gemäß seinem Artikel 1 Absatz 2 gilt der Tarifvertrag für alle Wachdienstunternehmen, die in Belgien eine Tätigkeit ausüben, unabhängig davon, ob sie ihren Sitz in Belgien oder im Ausland haben.
5.
Nach Artikel 2 des Tarifvertrags werden die bei den Wachdienstunternehmen für Rechnung Dritter beschäftigten Arbeitnehmer in neun Kategorien eingeteilt; dabei wird die Art der durchgeführten Arbeiten, die berufliche Befähigung und das Maß an Selbständigkeit und Verantwortung bei der Durchführung der ihnen übertragenen Aufgaben berücksichtigt.
6.
In Artikel 3 des Tarifvertrags sind für jede Kategorie von Arbeitnehmern der Mindeststundenlohn und die Höhe verschiedener Zulagen und Zuschläge festgelegt.
7.
Artikel 56 des Gesetzes vom 5. Dezember 1968 über die Tarifverträge und die paritätischen Ausschüsse (Moniteur belge vom 15. Januar 1969) sieht u. a. vor, dass der Verstoß gegen einen für verbindlich erklärten Tarifvertrag strafbar ist. Dieses Gesetz gehört zu den Polizei- und Sicherheitsgesetzen im Sinne des Artikels 3 des belgischen Code civil und ist als solches für alle, die in Belgien tätig sind, verbindlich.
Das Ausgangsverfahren
8.
Die ISA, die ihren Sitz in Mont-Saint-Martin (Frankreich) hat, beschäftigte zwischen dem 1. Januar 1996 und 14. Juli 1997 dreizehn Arbeitnehmer mit der Bewachung einer Verkaufsgalerie in Messancy (Belgien).
9.
Einige dieser Arbeitnehmer waren in Belgien vollzeitbeschäftigt, während andere dort nur einen Teil der Zeit beschäftigt waren und im Übrigen auch in Frankreich Arbeitsleistungen erbrachten.
10.
Bei einer Kontrolle am 21. März 1997 forderten die belgischen Dienststellen, die für die Überwachung der sozialrechtlichen Vorschriften zuständig sind, André Mazzoleni auf, verschiedene nach belgischem Recht vorgeschriebene Unterlagen vorzulegen, u. a. Lohnkarten. Ihre Überprüfung ergab, dass die monatliche Grundvergütung eines in Belgien beschäftigten Arbeitnehmers der ISA für 169 Arbeiststunden 6 692 FRF betrug, also ca. 40 152 BEF, was einem Stundenlohn von ungefähr 237,59 BEF entspricht, obwohl der im Tarifvertrag vorgesehene Mindeststundenlohn 356,68 BEF betrug.
11.
Wegen Nichtbeachtung der Verpflichtung zur Zahlung von Lohn, der nicht unter dem im Tarifvertrag festgelegten Mindeststundenlohn liegt, wurden André Mazzoleni und die ISA vor dem Tribunal correctionnel Arlon angeklagt. Éric Guillaume und vier weitere der dreizehn betroffenen Arbeitnehmer traten dem Strafverfahren als Nebenkläger bei.
12.
Vor dem Tribunal correctionnel Arlon trug die ISA vor, sie habe hinsichtlich des Mindestlohns lediglich das französische Recht zu beachten.
13.
Sie machte zum einen geltend, dass die Eigenart der Überwachungstätigkeit einen Wechsel des Personals bedinge, damit es von den Kunden nicht zu leicht erkannt werde, und dass ihre Beschäftigten daher in dem Sinne Teilzeit in Belgien arbeiteten, dass ein Beschäftigter möglicherweise täglich, wöchentlich oder monatlich einen Teil seiner Arbeitsleistung in einem angrenzenden Gebiet erbringen müsse. Die Richtlinie sei auf solche Teilzeit-Arbeitssituationen nicht anwendbar.
14.
Zum anderen vertrat die ISA die Ansicht, die betroffenen dreizehn Arbeitnehmer genössen nach der französischen Regelung den gleiche...