Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorsteuerabzug, Rechnungsstellung, Rechnungsangaben, Rechnung mit Postfachanschrift des leistenden Unternehmers, Vollständigkeit der Rechnungsangaben
Leitsatz (amtlich)
Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a in Verbindung mit Art. 226 Nr. 5 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug davon abhängig macht, dass in der Rechnung die Anschrift angegeben ist, unter der der Rechnungsaussteller seine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a, Art. 226 Nr. 5
Beteiligte
Finanzamt Bergisch Gladbach |
Verfahrensgang
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuerwesen ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a und Art. 226 Nr. 5 ‐ Vorsteuerabzug ‐ Obligatorische Rechnungsangaben ‐ Schutzwürdiges Vertrauen des Steuerpflichtigen in das Vorliegen der Voraussetzungen des Rechts auf Vorsteuerabzug“
In den verbundenen Rechtssachen C-374/16 und C-375/16
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidungen vom 6. April 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juli 2016, in den Verfahren
Rochus Geissel, handelnd als Liquidator der RGEX GmbH i. L.,
gegen
Finanzamt Neuss (C-374/16)
und
Finanzamt Bergisch Gladbach
gegen
Igor Butin (C-375/16)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits (Berichterstatter) und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger sowie des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von Herrn Butin, vertreten durch Rechtsanwalt L. Rodenbach,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
‐ der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Juli 2017
folgendes
Urteil
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a und Art. 226 Nr. 5 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zum einen zwischen Herrn Rochus Geissel, handelnd als Liquidator der RGEX GmbH i. L., und dem Finanzamt Neuss (Deutschland) und zum anderen zwischen dem Finanzamt Bergisch Gladbach (Deutschland) und Herrn Igor Butin über die Weigerung dieser Finanzämter, den Abzug der entrichteten Vorsteuerbeträge aus Rechnungen zu gewähren, in denen die Anschrift angegeben ist, unter der der Rechnungsaussteller zwar postalisch zu erreichen ist, jedoch keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…“
Rz. 4
Art. 178 dieser Richtlinie sieht vor:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
a) [F]ür den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen und dem Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen;
…“
Rz. 5
Art. 220 der Richtlinie bestimmt:
„Jeder Steuerpflichtige stellt in folgenden Fällen eine Rechnung entweder selbst aus oder trägt dafür Sorge, dass eine Rechnung vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder in seinem Namen und für seine Rechnung von einem Dritten ausgestellt wird:
1. Er liefert Gegenstände oder erbringt Dienstleistungen an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person.
…“
Rz. 6
In Art. 226 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Unbeschadet der in dieser Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen müssen gemäß den Artikeln 220 und 221 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die folgenden Angaben enthalten:
…
5. den vollständigen Namen und die vollständige Ansch...