Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträgliche Prüfung einer Zollanmeldung, Verzugszinsen, Nacherhebung von Einfuhrabgaben, Ursprungszeugnis nach Formblatt A
Leitsatz (amtlich)
1. Art. 220 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Einführer unter Berufung auf ein berechtigtes Vertrauen im Sinne dieser Bestimmung nur dann geltend machen kann, eine nachträgliche buchmäßige Erfassung der Einfuhrabgaben sei wegen seiner Gutgläubigkeit unzulässig, wenn kumulativ drei Voraussetzungen erfüllt sind. Erforderlich ist zunächst, dass die Abgaben wegen eines Irrtums der zuständigen Behörden nicht erhoben worden sind, sodann, dass der Irrtum von einem gutgläubigen Zollschuldner vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte, und schließlich, dass dieser alle für seine Zollerklärung geltenden Bestimmungen beachtet hat. Ein solches berechtigtes Vertrauen fehlt insbesondere, wenn sich ein Einführer, obwohl er offenkundige Gründe hat, an der Richtigkeit eines Ursprungszeugnisses nach Formblatt A zu zweifeln, nicht im Rahmen seiner Möglichkeiten danach erkundigt hat, unter welchen Umständen das Zeugnis ausgestellt worden ist, um zu überprüfen, ob diese Zweifel berechtigt waren. Eine solche Pflicht bedeutet jedoch nicht, dass ein Einführer ganz allgemein die Umstände der Ausstellung eines Ursprungszeugnisses nach Formblatt A durch die Zollbehörden des Ausfuhrstaats systematisch zu überprüfen hat. Das vorlegende Gericht hat unter Berücksichtigung sämtlicher konkreten Umstände des Ausgangsrechtsstreits zu prüfen, ob diese drei Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.
2. Art. 220 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 2913/92 in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens aus den Informationen in einem Bericht des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) geschlossen werden kann, dass ein Einführer kein berechtigtes Vertrauen nach dieser Bestimmung geltend machen kann, umeiner nachträglichen buchmäßigen Erfassung der Zollabgaben zu widersprechen. Soweit ein solcher Bericht jedoch nur eine allgemeine Beschreibung der fraglichen Situation enthalten sollte, was das nationale Gericht zu prüfen hat, reicht er allein nicht aus, um rechtlich hinreichend nachzuweisen, dass diese Voraussetzungen in jeder Hinsicht, insbesondere bezüglich des einschlägigen Verhaltens des Ausführers, tatsächlich erfüllt sind. Unter solchen Umständen obliegt es grundsätzlich den Zollbehörden des Einfuhrstaats, mit Hilfe zusätzlicher Beweise den Nachweis zu erbringen, dass die Ausstellung eines unrichtigen Ursprungszeugnisses nach Formblatt A durch die Zollbehörden des Ausfuhrstaats auf der unrichtigen Darstellung der Fakten durch den Ausführer beruht. Wenn es den Zollbehörden des Einfuhrstaats jedoch unmöglich ist, diesen Nachweis zu erbringen, hat der Einführer gegebenenfalls zu beweisen, dass dieses Zeugnis auf der Grundlage einer richtigen Darstellung der Fakten durch den Ausführer beruht.
Normenkette
EWGV 2913/92 Art. 220 Abs. 2 Buchst. b
Beteiligte
Verfahrensgang
Augstakas tiesas Senata Administrativo (Lettland) (Beschluss vom 20.01.2016; Abl.Eu 2016, Nr. C 111/15) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Zollunion ‐ Zollkodex der Gemeinschaften ‐ Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ‐ Nacherhebung von Einfuhrabgaben ‐ Vertrauensschutz ‐ Voraussetzungen für die Anwendung ‐ Irrtum der Zollbehörden ‐ Pflicht des Einführers, gutgläubig zu handeln und die Umstände zu überprüfen, unter denen das Ursprungszeugnis nach Formblatt A ausgestellt worden ist ‐ Beweismittel ‐ Bericht des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF)“
In der Rechtssache C-47/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Augstākās tiesas Administratīvo lietu departaments (Oberster Gerichtshof, Senat für Verwaltungsstreitsachen, Lettland) mit Entscheidung vom 20. Januar 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Januar 2016, in dem Verfahren
Valsts ieņēmumu dienests
gegen
„Veloserviss“ SIA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin (Berichterstatter),
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš und K. Freimanis als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Caeiros und I. Rubene als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 220 Abs. 2 Buchst. b d...