Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäische Ermittlungsanordnung. Begriff ‚Anordnungsbehörde’. Voraussetzungen für den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung. Anerkennung einer Europäischen Ermittlungsanordnung. Europäische Ermittlungsanordnung zur Erhebung von Verkehrs- und Standortdaten im Zusammenhang mit dem Telekommunikationsverkehr, die von einem Staatsanwalt erlassen wird, der durch den nationalen Rechtsakt, mit dem die Richtlinie 2014/41 umgesetzt wird, als „Anordnungsbehörde” bestimmt ist. Ausschließliche Zuständigkeit des Richters für die Anordnung der in der Ermittlungsanordnung angegebenen Ermittlungsmaßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall
Normenkette
RL 2014/41/EU Art. 2 Buchst. c Ziff. i, Art. 6, 9 Abs. 1 und 3
Beteiligte
Spetsializirana prokuratura |
Tenor
1. Art. 2 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Staatsanwalt in der vorgerichtlichen Phase eines Strafverfahrens für den Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung im Sinne dieser Richtlinie zur Erhebung von Verkehrs- und Standortdaten im Zusammenhang mit dem Telekommunikationsverkehr zuständig ist, wenn in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall der Erlass einer Ermittlungsmaßnahme, mit der der Zugang zu solchen Daten erlangt werden soll, in die ausschließliche Zuständigkeit des Richters fällt.
2. Art. 6 und Art. 9 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2014/41 sind dahin auszulegen, dass die Anerkennung einer Europäischen Ermittlungsanordnung, die zur Erhebung von Verkehrs- und Standortdaten im Zusammenhang mit dem Telekommunikationsverkehr erlassen wurde, durch die Vollstreckungsbehörde die im Anordnungsstaat geltenden Anforderungen nicht ersetzen kann, wenn diese Ermittlungsanordnung unrechtmäßigerweise von einem Staatsanwalt erlassen wurde, obwohl in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall der Erlass einer Ermittlungsmaßnahme zur Erhebung solcher Daten in die ausschließliche Zuständigkeit des Richters fällt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 24. September 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Oktober 2019, in dem Strafverfahren gegen
HP,
Beteiligte:
Spetsializirana prokuratura,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der vierten Kammer sowie der Richter S. Rodin und N. Piçarra,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von HP, vertreten durch E. Yordanov, advokat,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, R. Kissné Berta und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten zunächst durch Y. Marinova und R. Troosters, dann durch Y. Marinova und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Mai 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. c Ziff. i der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen HP, im Laufe dessen die bulgarische Staatsanwaltschaft vier Europäische Ermittlungsanordnungen zur Erhebung von Beweisen in Belgien, Deutschland, Österreich und Schweden erlassen hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2002/58/EG
Rz. 3
In Art. 2 Buchst. b und c der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. 2002, L 201, S. 37) heißt es:
„Sofern nicht anders angegeben, gelten die Begriffsbestimmungen der Richtlinie 95/46/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. 1995, L 281, S. 31)] und der Richtlinie 2002/21/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (‚Rahmenrichtlinie’) [(ABl. 2002, L 108, S. 33)] auch für diese Richtlinie.
Weiterhin bezeichnet im Sinne dieser Richtlinie der Ausdruck
…
b) ‚Verkehrsdaten’ Daten, die zum Zwecke der Weiterleitung einer Nachricht an ein elektronisches Kommunikationsnetz oder zum Zwecke der F...