Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Finanzielle Vergütung für nicht genommenen Jahresurlaub, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses gezahlt wird. Nationale Regelung, die die Zahlung dieser Vergütung verbietet, wenn ein im öffentlichen Dienst beschäftigter Arbeitnehmer auf eigenen Wunsch aus dem Dienst ausscheidet. Eindämmung der öffentlichen Ausgaben. Organisatorische Erfordernisse des öffentlichen Arbeitgebers
Normenkette
Richtlinie 2003/88/EG Art. 7; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 31 Abs. 2
Beteiligte
Tenor
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die zugunsten der Eindämmung öffentlicher Ausgaben sowie wegen organisatorischer Erfordernisse des öffentlichen Arbeitgebers das Verbot vorsehen, dem Arbeitnehmer eine finanzielle Vergütung für sowohl im letzten Jahr der Beschäftigung als auch in den Vorjahren erworbenen, zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub zu zahlen, wenn der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis auf eigenen Wunsch beendet und nicht nachgewiesen hat, dass er den Urlaub aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen nicht während des Arbeitsverhältnisses genommen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Lecce (Gericht Lecce, Italien) mit Entscheidung vom 22. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. März 2022, in dem Verfahren
BU
gegen
Comune di Copertino
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin),
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von BU, vertreten durch A. Russo, Avvocata,
- der Comune di Copertino, vertreten durch L. Caccetta, Avvocata,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Fiandaca, Avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Recchia als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. Juni 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BU, einem ehemaligen im öffentlichen Dienst bei der Comune di Copertino (Gemeinde Copertino, Italien) beschäftigten Arbeitnehmer, und dieser Gemeinde über ihre Weigerung, den zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses von BU nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub abzugelten, da er auf eigenen Wunsch aus dem Dienst ausgetreten war, um in den vorzeitigen Ruhestand einzutreten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der vierte Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 lautet:
„Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.”
Rz. 4
Art. 7 („Jahresurlaub”) der Richtlinie 2003/88 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.”
Italienisches Recht
Rz. 5
In Art. 36 Abs. 3 der italienischen Verfassung heißt es:
„Der Arbeiter hat Anspruch auf einen wöchentlichen Ruhetag und auf einen bezahlten Jahresurlaub; er kann darauf nicht verzichten.”
Rz. 6
Art. 2109 („Ruhezeit”) Abs. 1 und 2 des Codice civile (Zivilgesetzbuch) bestimmt:
„(1) Der Arbeitnehmer hat Anspruch auf einen wöchentlichen Ruhetag, der in der Regel auf einen Sonntag fallen muss.
(2) Er hat auch Anspruch auf einen jährlichen, möglichst zusammenhängenden, bezahlten Urlaub zu einer Zeit, die der Unternehmer unter Berücksichtigung der Erfordernisse des Unternehmens und der Interessen des Arbeitnehmers festsetzt. Die Dauer dieses Urlaubs wird durch das Gesetz, durch die Gebräuche oder nach Billigkeit festgesetzt.”
Rz. 7
Art. 5 („Verringerung der Ausgaben der öffentlichen Verwaltungen”) des Decreto-legge n. 95 – Disp...