Entscheidungsstichwort (Thema)
Besteuerungsgrundlage, Minderung der Besteuerungsgrundlage, Bestätigung über Eingang einer berichtigten Rechnung als Voraussetzung der Minderung der Besteuerungsgrundlage
Leitsatz (amtlich)
Ein Erfordernis, wonach die Minderung der sich aus der ursprünglichen Rechnung ergebenden Bemessungsgrundlage davon abhängt, dass der Steuerpflichtige im Besitz einer vom Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen übermittelten Bestätigung des Erhalts einer berichtigten Rechnung ist, fällt unter den Begriff der Bedingung im Sinne von Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem.
Die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit stehen einem solchen Erfordernis grundsätzlich nicht entgegen. Erweist es sich jedoch für den Steuerpflichtigen, den Lieferer der Gegenstände oder Dienstleistungen, als unmöglich oder übermäßig schwer, binnen angemessener Frist eine solche Empfangsbestätigung zu erhalten, kann ihm nicht verwehrt werden, vor den Steuerbehörden des betreffenden Mitgliedstaats mit anderen Mitteln nachzuweisen, dass er zum einen die unter den Umständen des konkreten Falles erforderliche Sorgfalt hat walten lassen, um sich zu vergewissern, dass der Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen im Besitz der berichtigten Rechnung ist und von ihr Kenntnis genommen hat, und dass zum anderen der fragliche Umsatz tatsächlich entsprechend den in der berichtigten Rechnung angegebenen Bedingungen getätigt worden ist.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 90 Abs. 1
Beteiligte
Verfahrensgang
Naczelny Sąd Administracyjny (Polen) (Urteil vom 16.09.2010; ABl. EU 2011, Nr. C 89/10) |
Tatbestand
„Steuerrecht ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Art. 90 Abs. 1 ‐ Preisnachlass nach Bewirkung des Umsatzes ‐ Nationale Regelung, die die Minderung der Bemessungsgrundlage davon abhängig macht, dass der Lieferer der Gegenstände oder Dienstleistungen im Besitz einer vom Erwerber der Gegenstände oder Dienstleistungen übermittelten Bestätigung des Erhalts einer berichtigten Rechnung ist ‐ Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer ‐ Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache C-588/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Polen) mit Entscheidung vom 16. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Dezember 2010, in dem Verfahren
Minister Finansów
gegen
Kraft Foods Polska SA
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter U. Lõhmus, A. Rosas, A. Ó Caoimh und A. Arabadjiev (Berichterstatter),
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. November 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ des Minister Finansów, vertreten durch J. Kwaśnicki, Rechtsberater,
‐ der Kraft Foods Polska SA, vertreten durch P. Żurowski, Steuerberater, und A. Smolińska-Wiśnioch, adwokat,
‐ der polnischen Regierung, vertreten durch A. Kraińska, A. Kramarczyk und M. Szpunar als Bevollmächtigte,
‐ der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes als Bevollmächtigten,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie der Grundsätze der Steuerneutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Minister Finansów (polnischer Minister für Finanzen) und der Kraft Foods Polska SA (im Folgenden: KFP) wegen einer Einzelfallauslegung für KFP, in der unter Berücksichtigung der nationalen Regelung festgestellt wurde, dass die Minderung der Steuerbemessungsgrundlage und des Betrags der geschuldeten Mehrwertsteuer auf der Grundlage einer berichtigten Rechnung für den Vertragspartner rechtswidrig sei, wenn KFP bei Abgabe der Erklärung über die Mehrwertsteuer nicht im Besitz einer von diesem Vertragspartner übermittelten Bestätigung des Erhalts der berichtigten Rechnung sei.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In Art. 1 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es: „Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.“
Rz. 4
Art. 73 dieser Richtlinie lautet: „...