Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Eilvorlageverfahren. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Grundsatz ne bis in idem. Begriff der Sanktion, die ‚bereits vollstreckt worden ist’ oder ‚gerade vollstreckt wird’
Normenkette
Charta der Grundrehte der Europäishen Union Art. 50, 52; SDÜ Art. 54
Beteiligte
Tenor
1. Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, der die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem von der Bedingung abhängig macht, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion „bereits vollstreckt worden ist” oder „gerade vollstreckt wird”, ist mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar, der diesen Grundsatz verbürgt.
2. Art. 54 dieses Übereinkommens ist dahin auszulegen, dass die bloße Zahlung der Geldstrafe, die gegen eine Person verhängt wurde, der mit der gleichen Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats eine bislang nicht vollstreckte Freiheitsstrafe auferlegt wurde, nicht den Schluss zulässt, dass die Sanktion im Sinne dieser Bestimmung bereits vollstreckt worden ist oder gerade vollstreckt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Nürnberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 19. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 2014, in dem Strafverfahren gegen
Zoran Spasic
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen, M. Safjan und C. G. Fernlund, des Richters A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) sowie der Richter D. Šváby, E. Jarašiūnas, S. Rodin und F. Biltgen,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 19. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 2014, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Dritten Kammer des Gerichtshofs vom 31. März 2014, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. April 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Spasic, vertreten durch Rechtsanwalt A. Schwarzer,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und F.-X. Bréchot als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Ventrella, avvocato dello Stato,
- des Rates der Europäischen Union, vertreten durch P. Plaza und Z. Kupcová als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ), der das Verbot der Doppelbestrafung zum Gegenstand hat, sowie die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines in Deutschland anhängigen Strafverfahrens gegen Herrn Spasic, dem ein in Italien begangener Betrug zur Last gelegt wird.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Charta
Rz. 3
Art. 50 („Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden”) der Charta gehört zu deren Titel VI („Justizielle Rechte”). Er lautet:
„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.”
Rz. 4
Die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze werden nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV gemäß den allgemeinen Bestimmungen des Titels VII der Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt, und unter gebührender Berücksichtigung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt.
Rz. 5
Art. 52 („Tragweite der [garantierten] Rechte …”) der Charta, der zu Titel VII („Allgem...