Entscheidungsstichwort (Thema)
Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen. Grundsatz ne bis in idem. Begriffe ‚dieselbe Tat’. und ‚abgeurteilte Tat’. Ausfuhr in einen Staat und Einfuhr in einen anderen Staat. Freispruch des Beschuldigten
Beteiligte
Tenor
1. Artikel 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen ist dahin auszulegen, dass
- für seine Anwendung das Kriterium der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen, unabhängig von der rechtlichen Qualifizierung dieser Tatsachen oder von dem geschützten rechtlichen Interesse maßgeblich ist;
- es, was Drogenvergehen betrifft, nicht erforderlich ist, dass die in den beiden betreffenden Vertragsstaaten in Rede stehenden Drogenmengen oder die Personen, die angeblich an der Tat in den beiden Staaten beteiligt waren, identisch sind;
- die strafbaren Handlungen, die in der Ausfuhr und der Einfuhr derselben Betäubungsmittel bestehen und in verschiedenen Vertragsstaaten dieses Übereinkommens strafrechtlich verfolgt worden sind, grundsätzlich als „dieselbe Tat” im Sinne des genannten Artikels 54 anzusehen sind, wobei die abschließende Beurteilung Sache der zuständigen nationalen Gerichte ist.
2. Der in Artikel 54 dieses Übereinkommens verankerte Grundsatz ne bis in idem ist auf eine Entscheidung der Justiz eines Vertragsstaats anwendbar, mit der ein Angeklagter rechtskräftig aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 35 EU, eingereicht von der Rechtbank 's-Hertogenbosch (Niederlande) mit Entscheidung vom 23. März 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 4. April 2005, in dem Verfahren
Jean Leon Van Straaten
gegen
Staat der Nederlanden,
Republiek Italië
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer K. Schiemann in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer, der Richterin N. Colneric (Berichterstatterin) sowie der Richter J. N. Cunha Rodrigues, M. Ilešič und E. Levits,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: H. von Holstein,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Mai 2006,
unter Berücksichtigung der Erklärungen:
- der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster und D. J. M. de Grave als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. Aiello, avvocato dello Stato,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch T. Bocek als Bevollmächtigten,
- der spanischen Regierung, vertreten durch M. Muñoz Pérez als Bevollmächtigten,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und J.-C. Niollet als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,
- der polnischen Regierung, vertreten durch T. Nowakowski als Bevollmächtigten,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch K. Wistrand als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch W. Bogensberger und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Juni 2006
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Artikel 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: Durchführungsübereinkommen oder SDÜ).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich Herr Van Straaten zum einen und der niederländische Staat und die Italienische Republik zum anderen gegenüberstehen und in dem es um die Ausschreibung im Schengener Informationssystem (im Folgenden: Informationssystem) der strafrechtlichen Verurteilung, die in Italien gegen Herrn Van Straaten wegen Handels mit Betäubungsmitteln ergangen ist, zum Zweck seiner Auslieferung geht.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 Nach Artikel 1 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union, das durch den Vertrag von Amsterdam dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft als Anhang beigefügt wurde (im Folgenden: Protokoll), sind dreizehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darunter die Italienische Republik und das Königreich der Niederlande, ermä...