Prof. Dr. Hans-Friedrich Lange
Leitsatz
Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Enthält eine zur Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL erforderliche Rechnung die "vollständige Anschrift" i.S.v. Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL, wenn der leistende Unternehmer in der von ihm über die Leistung ausgestellten Rechnung eine Anschrift angibt, unter der er zwar postalisch zu erreichen ist, wo er jedoch keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt?
2. Steht Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL unter Beachtung des Effektivitätsgebots einer nationalen Praxis entgegen, die einen guten Glauben des Leistungsempfängers an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nur außerhalb des Steuerfestsetzungsverfahrens im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens berücksichtigt? Ist Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL insoweit berufbar?
Normenkette
§ 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG, § 163, § 227 AO, Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a, Art. 226 Nr. 5 EG-RL 112/2006 (= MwStSystRL)
Sachverhalt
Die Klägerin, eine GmbH, handelte mit Kfz. In ihrer Umsatzsteuererklärung erklärte sie u.a. Vorsteuerbeträge aus Kfz-Lieferungen der D-GmbH.
Das FA versagte den Vorsteuerabzug, weil es sich bei der D-GmbH um eine "Scheinfirma" handele.
Unter der Rechnungsanschrift befand sich zwar der statuarische Sitz der D-GmbH. Dort war sie auch über ein Buchhaltungsbüro, das die Post für sie entgegennahm, postalisch erreichbar. Geschäftliche Aktivitäten der D-GmbH fanden unter dieser Anschrift aber nicht statt.
Das FG wies die Klage (insoweit) ab (FG Düsseldorf, Urteil vom 14.3.2014, 1 K 4566/10 U, Haufe-Index 7016747, EFG 2014, 1526).
Entscheidung
Der XI. Senat des BFH hat dem EuGH zwei Fragen zum Rechnungsmerkmal "vollständige Anschrift" und zur Berücksichtigung des Gutglaubensschutzes beim Vorsteuerabzug zur Vorabentscheidung vorgelegt (Az. beim EuGH C–374/16).
1. Zur ersten Frage
a) Im Juli 2015 hatte der V. Senat des BFH in einem gleichfalls den Vorsteuerabzug aus Rechnungen der D-GmbH betreffenden Parallel-Verfahren – unter Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung – entschieden, dass das Merkmal "vollständige Anschrift" i.S.v. § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG nur die Angabe der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers erfüllt, unter der er seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfaltet (vgl. BFH, Urteil vom 22.7.2015, V R 23/14, BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914, Leitsatz 1 sowie Rz. 25). Dementsprechend hatte er den Vorsteuerabzug aus Rechnungen der D-GmbH versagt.
Die gegen dieses Urteil erhobene Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.2.2016, 1 BvR 2419/15, HI 8972232).
b) Im Oktober 2015 ist das EuGH-Urteil PPUH Stehcemp ergangen (EuGH, Urteil vom 22.10.2015, C‐277/14 (EU:C:2015:719, BFH/NV 2015, 1790, UR 2015, 917). Nach diesem Urteil ist im Hinblick auf das Vorsteuerabzugsrecht des Leistungsempfängers möglicherweise nicht entscheidend, ob unter der in der Rechnung angegebenen Adresse i.S.v. Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL eine wirtschaftliche Tätigkeit des Leistenden ausgeübt wird.
Ob der Lieferer unter der angegebenen Rechnungsadresse eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt oder nicht, könnte mithin keine Voraussetzung für den Vorsteuerabzug sein. Trifft dies zu, dürfte bezogen auf den Streitfall der Vorsteuerabzug nicht deshalb versagt werden, weil die D-GmbH unter der von ihr angegebenen Rechnungsadresse keine eigene wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet hat.
c) Deshalb will der vorlegende XI. Senat des BFH mit seiner ersten Vorlagefrage wissen, ob eine zur Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL erforderliche Rechnung die "vollständige Anschrift" i.S.v. Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL enthält, wenn der leistende Unternehmer in der von ihm über die Leistung ausgestellten Rechnung eine Anschrift angibt, unter der er zwar postalisch zu erreichen ist, wo er jedoch keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.
2. Zur zweiten Vorlagefrage:
a) In diesem Zusammenhang stellt sich ferner die vom XI. Senat des BFH dem EuGH vorgelegte zweite Frage, ob Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL unter Beachtung des Effektivitätsgebots einer nationalen Praxis entgegensteht, die einen guten Glauben des Leistungsempfängers an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nur außerhalb des Steuerfestsetzungsverfahrens im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens berücksichtigt, und Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 178 Buchst. a MwStSystRL insoweit berufbar ist.
b) Wäre dies der Fall, könnte die Klägerin – unter Gewährung von Vertrauensschutz bereits im Steuerfestsetzungsverfahren – den streitigen Vorsteuerabzug dann beanspruchen, wenn sie – wie hier mit der Klage geltend gemacht – weder wusste noch hätte wissen können, dass die D-GmbH unter der angegebenen Rechnungsanschrift nur einen "Briefkastensitz" unterhalten ...