Leitsatz
1. Liegt unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen ein Steuerpflichtiger im Auftrag des MDK Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Patienten erstellt, eine Tätigkeit vor, die dem Anwendungsbereich des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG unterfällt?
2. Falls die Frage 1 bejaht wird:
a) Reicht es für die Anerkennung eines Unternehmers als eine Einrichtung mit sozialem Charakter im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG aus, dass dieser als Subunternehmer im Auftrag einer Einrichtung, die nach nationalem Recht als soziale Einrichtung im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG anerkannt ist, Leistungen erbringt?
b) Falls die Frage 2a) verneint wird: Ist unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die pauschale Übernahme der Kosten einer anerkannten Einrichtung im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG durch die Kranken‐ und Pflegekassen ausreichend dafür, dass auch ein Subunternehmer dieser Einrichtung als eine anerkannte Einrichtung zu beurteilen ist?
c) Falls die Fragen 2a) und 2b) verneint werden: Darf der Mitgliedstaat die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter davon abhängig machen, dass der Steuerpflichtige einen Vertrag mit einem Träger der sozialen Sicherheit oder Sozialfürsorge tatsächlich abgeschlossen hat, oder reicht es für eine Anerkennung aus, dass nach nationalem Recht ein Vertrag abgeschlossen werden könnte?
Normenkette
§ 4 Nr. 14 Buchst. a und b, Nrn. 15, 15a, 16 Buchst. k (ab 1. Juli 2013 Buchst. l) UStG, § 18, § 53a SGB XI, Art. 132 Abs. 1 Buchst. g, Art. 134 EGRL 112/2006 (= MwStSystRL)
Sachverhalt
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine ausgebildete Krankenschwester und Lehrerin für Pflege, erstellt für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Patienten. Die Leistungen rechnete der MDK monatlich ihr gegenüber ab, wobei er keine Umsatzsteuer auswies.
Die Klägerin sah die Umsätze aus der Gutachtertätigkeit als steuerfrei an, nahm jedoch den Vorsteuerabzug aus allen Eingangsleistungen ungekürzt in Anspruch. Der Beklagte und Revisionskläger (das FA) sah die Gutachtertätigkeit als umsatzsteuerpflichtig an.
Das FG (Niedersächsisches FG, Urteil vom 9.6.2016, 11 K 15/16, Haufe-Index 11197810) nahm an, die Erstellung von Pflegegutachten sei als "eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistung" unter unmittelbarer Berufung auf das Unionsrecht steuerfrei.
Entscheidung
Der BFH nahm die Revision des FA, mit der es vortrug, die nationalen Steuerbefreiungsvorschriften sähen keine Steuerfreiheit der konkreten Gutachterleistungen vor und seien unionsrechtskonform, sodass eine Berufung auf Unionsrecht nicht möglich sei, zum Anlass, den EuGH um Vorabentscheidung der im Leitsatz genannten Fragen zu ersuchen.
Hinweis
1. Durch das EuGH-Urteil Unterpertinger (EuGH, Urteil vom 20.11.2003, C-212/01, BFH/NV Beilage 2004, 111) ist unionsrechtlich geklärt, dass die Erstellung eines medizinischen Gutachtens zum Gesundheitszustand einer Person, das zur Beantragung einer Invalidenpension benötigt wird, nicht nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL umsatzsteuerfrei ist. Allerdings hat sich der EuGH in diesem Urteil nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob eine andere Steuerbefreiung eingreift.
2. Den BFH hat nun die Frage erreicht, ob die Leistung unter Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL fallen könnte.
a) Dazu müsste die Erstellung des Gutachtens ein eng mit der sozialen Sicherheit oder Sozialfürsorge verbundener Umsatz sein und der Gutachter eine vom Mitgliedstaat Deutschland anerkannte Einrichtung.
b) Die bisherige Rechtsprechung des BFH spricht teilweise gegen das Vorliegen eines eng verbundenen Umsatzes (vgl. BFH, Urteil vom 1.12.2010, XI R 46/08, BFH/NV 2011, 712) und teilweise gegen das Vorliegen einer anerkannten Einrichtung (vgl. BFH, Urteil vom 8.11.2007, V R 2/06, BFH/NV 2008, 510, BStBl II 2008, 634; BFH, Urteil vom 30.11.2016, V R 10/16, BFH/NV 2017, 627, Rz. 13 und Rz. 17). Allerdings ist dies nicht zweifelsfrei, sodass der BFH nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Anrufung des EuGH verpflichtet ist.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 10.4.2019 – XI R 11/17