Nicht immer hält ein Vorbehalt der Nachprüfung, was er verspricht
[Ohne Titel]
RiinFG Katja Lebelt / VorsRiFG Dr. Kai Tiede
Durch den Vorbehalt der Nachprüfung wird dem FA gem. § 164 Abs. 2 S. 1 AO eine Änderungsmöglichkeit des Bescheids eingeräumt. Der Steuerpflichtige kann nach § 164 Abs. 2 S. 2 AO jederzeit alle denkbaren Einwände gegen die Steuerfestsetzung geltend machen. Trotz des gesetzlich konzipierten einfachen Änderungszugangs kann es tückische Fallgestaltungen geben, in denen man mit seinen Einwendungen nicht (mehr) durchdringen kann.
I. Grundlagen des Antragsrechts gem. § 164 Abs. 2 S. 2 AO
Verhinderung der materiellen Bestandskraft: Der Vorbehalt der Nachprüfung (VdN) gem. § 164 Abs. 1 AO gehört zu den bewährten Werkzeugen des steuerlichen Verfahrensrechts. Er führt dazu, dass der Bescheid, der unter dem VdN ergeht, zwar mit Ablauf der Monatsfrist formell bestandskräftig wird, aber gleichwohl ohne weitere verfahrensrechtliche Hürden geändert werden kann, wenn er sich als materiell-rechtlich falsch erweist. Der VdN verhindert damit den Eintritt der materiellen Bestandskraft.
Voraussetzungen und Rechtsfolgen des VdN sind in der Praxis weitgehend unproblematisch: Der VdN wirkt zugunsten und zuungunsten der Beteiligten. Dem FA wird gem. § 164 Abs. 2 S. 1 AO eine Änderungsmöglichkeit des Bescheids eingeräumt.
Beraterhinweis Der Steuerpflichtige kann nach § 164 Abs. 2 S. 2 AO jederzeit die Aufhebung der Änderung der Steuerfestsetzung beantragen und dabei alle denkbaren Einwände gegen die Steuerfestsetzung geltend machen. Er kann neue Tatsachen vorbringen, seine eigene Rechtsauffassung ändern oder an eine geänderte Rechtsprechung, eine neue Beweislage oder eine veränderte Interessenlage anpassen. Er kann auch steuerliche Wahlrechte neu ausüben, sofern das materielle Recht dies ermöglicht. Das ist z.B. hinsichtlich der Inanspruchnahme der Freibeträge nach § 16 Abs. 4 EStG und § 34 Abs. 3 EStG (einmalige Freibeträge nach Vollendung des 55. Lebensjahrs) der Fall, nicht hingegen hinsichtlich des Optionsrechts nach § 19 Abs. 2 S. 1 UStG (Verzicht auf die Kleinunternehmerregelung).
Das FA muss nicht sofort über den Antrag entscheiden, sondern darf die Entscheidung bis zur abschließenden Prüfung des Steuerfalls hinausschieben (§ 164 Abs. 2 S. 3 AO). Der Ablauf der Festsetzungsfrist wird durch den Änderungsantrag nach § 171 Abs. 3 AO gehemmt. Zwar muss das FA in angemessener Frist entscheiden. Dies ist aber eine bloße Appellvorschrift (Rüsken in Klein, AO, 16. Aufl. 2022, § 164 Rz. 36), da die Angemessenheit ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, der einzelfallabhängig mit Inhalt zu füllen ist.
Trotz des gesetzlich konzipierten einfachen Änderungszugangs kann es tückische Fallgestaltungen geben, in denen man mit seinen Einwendungen nicht (mehr) durchdringen kann.
II. Auswirkungen der Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung auf laufende Änderungsanträge
1. Grundsachverhalt (Aufhebung des VdN gem. § 164 Abs. 1 AO ohne Entscheidung über den Änderungsantrag)
a) Ausgangsbeispiel
So stellt sich die Frage, wie mit Fällen umzugehen ist, in denen das FA den VdN aufhebt, ohne dass über einen zuvor gestellten Änderungsantrag nach § 164 Abs. 2 S. 2 AO bereits entschieden wurde.
Beispiel:
A beantragt eine Änderung des unter dem VdN gem. § 164 Abs. 1 AO stehenden Einkommensteuerbescheids 2021 dahingehend, dass Aufwendungen einer doppelten Haushaltsführung als Werbungskosten berücksichtigt werden. Ohne Entscheidung über den Antrag hebt das FA den VdN gem. § 164 Abs. 3 AO auf. Anschließend weist das FA den Änderungsantrag mit der Begründung ab, der Bescheid stehe nicht mehr unter dem VdN gem. § 164 Abs. 1 AO.
b) Rechtswidriger, aber wirksamer Aufhebungsbescheid
Ermessensfehler: Der VdN kann nach § 164 Abs. 3 S. 1 AO jederzeit aufgehoben werden. Dem FA ist grundsätzlich ein Ermessen eingeräumt, ob und wann die Aufhebung erklärt wird. Ein Bescheid, mit dem der VdN trotz eines noch anhängigen Änderungsantrages nach § 164 Abs. 2 S. 2 AO aufgehoben wird, ist ermessensfehlerhaft, weil er den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen abschneidet. Aufgrund des Ermessensfehlers liegt ein rechtswidriger Verwaltungsakt vor. Der Aufhebungsbescheid ist aber dennoch wirksam, § 124 Abs. 1 AO. Die Rechtswidrigkeit steht der Wirksamkeit nicht entgegen. Sie führt insb. – trotz ihrer Schwere – nicht zur Nichtigkeit, weil der Ermessensfehler hierfür nach § 125 Abs. 1 AO zusätzlich noch offenkundig sein müsste. Das aber scheitert daran, dass der noch "offene" Antrag erst durch Aktenbeiziehung, nicht aber aus dem Aufhebungsbescheid selbst ersichtlich ist.
c) Auswirkungen auf den noch offenen Änderungsantrag
Erlässt das FA zeitlich nach dem Änderungsantrag einen Bescheid, mit dem es den VdN gem. § 164 Abs. 3 S. 1 AO aufhebt, liegen die Voraussetzungen des § 164 Abs. 2 AO nicht mehr vor, weil es keinen wirksamen Vorbehalt mehr gibt.
Eine Änderung gem. § 164 Abs. 2 AO setzt nach dem Gesetzeswortlaut einen VdN gem. § 164 Abs. 1 AO voraus, der im Zeitpunkt der Änderung wirksam ist. Für einen Änderungsantrag des Steuerpflichtigen bedeutet dies, dass der VdN grundsätzlich nicht nur im Zeitpunkt des Änderungsantrags bestehen muss, sondern bis zur Bescheidänderung durch das FA fortbestehen muss.
Beachten Sie: Weder kennt § 164 AO eine Aufhebungssperre...