1. Grundsachverhalt (Aufhebung des VdN gem. § 164 Abs. 1 AO ohne Entscheidung über den Änderungsantrag)
a) Ausgangsbeispiel
So stellt sich die Frage, wie mit Fällen umzugehen ist, in denen das FA den VdN aufhebt, ohne dass über einen zuvor gestellten Änderungsantrag nach § 164 Abs. 2 S. 2 AO bereits entschieden wurde.
Beispiel:
A beantragt eine Änderung des unter dem VdN gem. § 164 Abs. 1 AO stehenden Einkommensteuerbescheids 2021 dahingehend, dass Aufwendungen einer doppelten Haushaltsführung als Werbungskosten berücksichtigt werden. Ohne Entscheidung über den Antrag hebt das FA den VdN gem. § 164 Abs. 3 AO auf. Anschließend weist das FA den Änderungsantrag mit der Begründung ab, der Bescheid stehe nicht mehr unter dem VdN gem. § 164 Abs. 1 AO.
b) Rechtswidriger, aber wirksamer Aufhebungsbescheid
Ermessensfehler: Der VdN kann nach § 164 Abs. 3 S. 1 AO jederzeit aufgehoben werden. Dem FA ist grundsätzlich ein Ermessen eingeräumt, ob und wann die Aufhebung erklärt wird. Ein Bescheid, mit dem der VdN trotz eines noch anhängigen Änderungsantrages nach § 164 Abs. 2 S. 2 AO aufgehoben wird, ist ermessensfehlerhaft, weil er den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen abschneidet. Aufgrund des Ermessensfehlers liegt ein rechtswidriger Verwaltungsakt vor. Der Aufhebungsbescheid ist aber dennoch wirksam, § 124 Abs. 1 AO. Die Rechtswidrigkeit steht der Wirksamkeit nicht entgegen. Sie führt insb. – trotz ihrer Schwere – nicht zur Nichtigkeit, weil der Ermessensfehler hierfür nach § 125 Abs. 1 AO zusätzlich noch offenkundig sein müsste. Das aber scheitert daran, dass der noch "offene" Antrag erst durch Aktenbeiziehung, nicht aber aus dem Aufhebungsbescheid selbst ersichtlich ist.
c) Auswirkungen auf den noch offenen Änderungsantrag
Erlässt das FA zeitlich nach dem Änderungsantrag einen Bescheid, mit dem es den VdN gem. § 164 Abs. 3 S. 1 AO aufhebt, liegen die Voraussetzungen des § 164 Abs. 2 AO nicht mehr vor, weil es keinen wirksamen Vorbehalt mehr gibt.
Eine Änderung gem. § 164 Abs. 2 AO setzt nach dem Gesetzeswortlaut einen VdN gem. § 164 Abs. 1 AO voraus, der im Zeitpunkt der Änderung wirksam ist. Für einen Änderungsantrag des Steuerpflichtigen bedeutet dies, dass der VdN grundsätzlich nicht nur im Zeitpunkt des Änderungsantrags bestehen muss, sondern bis zur Bescheidänderung durch das FA fortbestehen muss.
Beachten Sie: Weder kennt § 164 AO eine Aufhebungssperre für den Fall eines noch "offenen" Änderungsantrages, noch gibt es eine gesetzliche Fortgeltungsregelung für den VdN für den Fall der Antragstellung während eines (noch) bestehenden Vorbehalts der Nachprüfung.
d) Notwendigkeit des Einspruchs gegen den Aufhebungsbescheid
Beraterhinweis Da der Aufhebungsbescheid gem. § 164 Abs. 3 S. 2 AO einer Steuerfestsetzung ohne VdN gem. § 164 Abs. 1 AO gleichsteht, kann – und muss – der Steuerpflichtige Einspruch einlegen, mit dem er alle Einwendungen, also insb. auch den Änderungsantrag inhaltlich erneut geltend macht.
§ 351 Abs. 1 AO (Beschränkungen bei Einspruch gegen einen Änderungsbescheid) führt insoweit zu keiner Einschränkung, da der Aufhebungsbescheid wie eine erstmalige Steuerfestsetzung anzusehen ist. Der Änderungsantrag hat sich durch die Aufhebung des Vorbehalts erledigt und muss vom FA nicht mehr beschieden werden.
e) Fehlender Einspruch gegen den Aufhebungsbescheid
Wenn der Steuerpflichtige keinen Einspruch gegen den Aufhebungsbescheid einlegt, mit dem der VdN aufgehoben wird, würde zwar das Änderungsverfahren nach dem Rechtsgedanken des § 365 Abs. 3 AO nunmehr hinsichtlich des Aufhebungsbescheids fortgeführt. Im Ergebnis scheitert eine Änderung aber daran, dass ohne VdN keine Änderung gem. § 164 Abs. 2 AO mehr möglich ist.
Sofern nicht ausnahmsweise die Voraussetzungen einer anderen Änderungsnorm erfüllt sind (z.B. bei widerstreitenden Steuerfestsetzungen die des § 174 AO), kommt eine Änderung des Bescheids nicht in Betracht. Der vorausgegangene Änderungsantrag kann auch nicht in einen Einspruch gegen den Aufhebungsbescheid umgedeutet werden, weil es sich um einen bereits vor der Bekanntgabe des Verwaltungsakts eingelegten Einspruch handeln würde, der unzulässig ist und wiederholt werden muss (BFH v. 1.7.2010 – V B 108/09, BFH/NV 2010, 2014).
Beraterhinweis Es bleibt dann nur noch die Möglichkeit, verspätet Einspruch einzulegen und dies mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verbinden, bei dem das FA nach den auch die Finanzverwaltung bindenden Grundsätzen von Treu und Glauben großzügig zugunsten des Steuerpflichtigen entscheiden sollte. Denn der Steuerpflichtige muss nicht damit rechnen, dass das FA – statt über den Änderungsantrag zu entscheiden – den VdN schlicht aufhebt und damit dem Änderungsantrag verfahrensrechtlich den Erfolg verbaut. Zudem ist die verfahrensrechtliche Situation für nicht beratene Steuerpflichtige sehr undurchsichtig.
Soweit man den Aufhebungsbescheid zugleich in eine Ablehnungsentscheidung zu dem "offenen" Änderungsantrag umdeuten wollte, dürfte ebenfalls eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht kommen. In diesem Fall kann die Nichtverschuldensvermutung des § 126 Abs. 3 AO wegen fehlender Begründung zur Anwendung kommen, da jedenfalls der nicht beratene Steuerpflichtige nicht erkennen musste, dass mit der Aufhebung des Vorbehaltes der Nachprüfung zugleich eine Ablehnungsentscheidung verbunden is...