Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Abzweigung bei fehlender gesetzlicher Unterhaltspflicht des kindergeldberechtigten Pflegers/Betreuers gegenüber dem volljährigen behinderten Kind
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Voraussetzungen für eine Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG liegen nicht vor, wenn der Kindergeldberechtigte in seiner Funktion als Pfleger/Betreuer dem Kind zwar Unterhalt gewährt, es an einer Verletzung der Unterhaltspflicht mangels gesetzlicher Unterhaltpflicht jedoch fehlt.
2. Eine analoge Anwendung des § 74 Abs. 1 EStG kommt nicht in Betracht, wenn die Kindergelberechtigung nicht an eine aufgrund des Kindschaftsverhältnisses bestehende gesetzliche Unterhaltspflicht anknüpft, sondern bei Pflegekindern auf der familien- und elternähnlichen Betreuungs- und Versorgungssituation beruht.
3. Entstehen dem Kindergeldberechtigten Aufwendungen für das volljährige behinderte Kind mindestens in Höhe des Kindergeldes, kommt eine Abzweigung an den Sozialleistungsträger nicht in Betracht.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1, § 62 Abs. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 2; BGB § 1601
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die Kosten des Beigeladenen werden nicht erstattet.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte zu einer Abzweigung von Kindergeld zugunsten der Klägerin verpflichtet ist.
Der Beigeladene und seine Ehefrau waren zunächst die Pflegeeltern des am 21. Oktober 1987 geborenen Kindes … (X). X ist mit einem Grad der Behinderung von 100 v. H. wesentlich behindert (Merkzeichen G, H und RF, Bl. 655 der Kindergeldakte) und erhält von der Klägerin Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 12. Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XII). X, der zunächst Pflegekind und später „Betreuter” (vgl. Schreiben des Beigeladenen vom 14. Mai 2011, Bl. 648 der Kindergeldakte) des Beigeladenen war, wohnte im gesamten Streitzeitraum (bereits seit 1990, vgl. Haushaltsbescheinigung vom 17. Juni 2011, Bl. 654 der Kindergeldakte) in der Familie des Beigeladenen. Die Bestellung des Beigeladenen und seiner Ehefrau zum Betreuer von X erfolgte mit Bestellungsurkunde vom 20. Oktober 2005 (Bl. 656 der Kindergeldakte).
Der Beigeladene erhielt während des Streitzeitraums fortlaufend Kindergeld für X.
Mit Antrag vom 20. April 2011 (Bl. 645 der Kindergeldakte) beantragte die Klägerin bei dem Beklagten, zu ihren Gunsten das Kindergeld für X an sie abzuzweigen. Die Beklagte stellte hierauf die Zahlung des Kindergeldes an den Beigeladenen ab Juni 2011 zunächst ein.
Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Abzweigung des Kindergeldes zu ihren Gunsten durch Bescheid vom 25. Mai 2011 (Bl. 652 der Kindergeldakte) mit der Begründung ab, der kindergeldberechtigte Pflegevater von X – der Beigeladene – sei nicht nach § 1601 BGB unterhaltsverpflichtet. Zudem leiste der Beigeladene schon dadurch faktischen Unterhalt mindestens in der Höhe des Kindergeldes, da er es in seinen Haushalt aufgenommen habe.
Der hiergegen gerichtete Einspruch vom 16. Juni 2011 (Bl. 653 der Kindergeldakte) blieb ausweislich der Einspruchsentscheidung vom 15. September 2011 (Bl. 689 ff. der Kindergeldakte) ohne Erfolg.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage vom 17. Oktober 2011.
Zur Begründung bezieht sich die Klägerin auf das Urteil des BFH vom 16. April 2002 VIII R 50/01, BStBl II 2002, 575. Demnach sei § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 3 EStG analog auf Fälle wie den vorliegenden anzuwenden, in denen der Kindergeldberechtigte zwar dem Kind nicht pflichtwidrig keinen Unterhalt bezahle, sondern eine Unterhaltszahlung mangels entsprechender gesetzlicher Verpflichtung nicht erfolge.
Der Beigeladene habe auch keine weiteren, an X erbrachte Aufwendungen, welche nicht auch im Rahmen eines Mehrbedarfszuschlages in der Grundsicherung berücksichtigt worden wären, nachgewiesen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Aufhebung der Entscheidung über die Ablehnung des Antrags auf Abzweigung von Kindergeld vom 25. Mai 2011 und der Einspruchsentscheidung vom 15. September 2011 zu verpflichten, das Kindergeld für das Pflegekind des Beigeladenen X in Höhe des gesetzlichen Kindergeldes ab Juni 2011 an die Klägerin abzuzweigen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung nimmt sie vollumfänglich Bezug auf die Einspruchsentscheidung vom 15. September 2009. Ergänzend verweist sie auf die Entscheidung des FG SachsenAnhalt vom 5. Juli 2011 4 K 882/10.
Mit Beschluss vom 11. April 2011 (Bl. 27 der Gerichtsakte) hat der Berichterstatter den kindergeldberechtigten Pflegevater, Herrn Y, notwendig zu dem vorliegenden Verfahren beigeladen.
Der Sach- und Streitstand beruht auf der Gerichtsakte und den von der Beklagten vorgelegten Behördenakten (§ 71 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO). Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf diese Unterlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1. Die Klage ist unbegründet.
Nach § 101 Satz 1 FGO spricht das Gericht, soweit die Ablehnung eines Verwaltungsakts rechtswidrig und...