Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsanspruch des Sozialleistungsträgers bei versehentlicher Doppelzahlung von ungekürzten Sozialleistungen und Kindergeld
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Sozialleistungsträger muss die Familienkasse über die Gewährung ungekürzter Sozialleistungen informieren, wenn er vermeiden will, dass ein Leistungsempfänger und Kindergeldberechtigter durch Kindergeld einerseits und ungekürzte Sozialleistungen andererseits doppelt begünstigt wird.
2. Der Kenntniserlangung der Familienkasse im Sinne des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X steht nicht entgegen, dass das entsprechende Benachrichtigungsschreiben des Sozialleistungsträgers bei der Familienkasse aufgrund eines Versehens zunächst in einer „Parallelakte” abgelegt und Kindergeld aufgrund des Antrags der Kindergeldberechtigten bewilligt und an diese ausgezahlt wurde.
3. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II stellen gegenüber dem Anspruch auf Kindergeld nachrangige Leistungen dar.
4. Hat der Sozialleistungsträger keine Kenntnis von den Leistungen der Familienkasse, wird seine Leistung nicht dadurch (ex tunc) rechtswidrig, dass sich nachträglich herausstellt, dass die Familienkasse für die Kindergeldberechtigte versehentlich eine zweite Kindergeld-Akte angelegt und Kindergeld an diese ausgezahlt hat.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 2; AO § 37 Abs. 2; SGB X § 104 Abs. 1, § 107
Nachgehend
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
3. Die Revision wird hinsichtlich der Erstattungszeiträume Januar 2017 bis Juni 2017 zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin zur Rückzahlung von Kindergeld verpflichtet ist.
Die Klägerin bezieht seit Jahren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Jobcenter der Stadt X Stadt X (Beigeladene). Nachdem die Klägerin am 16. August 2016 das Kind (N) geboren hatte, nahm die Beigeladene das Kind N in die Bedarfsgemeinschaft auf und setzte mit Bescheid vom 16. September 2016 die Leistungen nach dem SGB II (Arbeitslosengeld bzw. Sozialgeld) neu fest. Bei den ab 1. August 2016 rückwirkend auch für N gezahlten Leistungen wurde der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld für N nicht als Einkommen angerechnet. Der Bescheid enthält die Klausel: „Die Bewilligung erfolgt bis zum 30. Juni 2017, sofern vorher keine zahlungsrelevanten Veränderungen eintreten.”
Die Beigeladene machte zugleich mit Schreiben vom 16. September 2016 gegenüber der Beklagten (Familienkasse) einen Erstattungsanspruch nach §§ 102, 103, 104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) geltend. Die Beigeladene wies die Familienkasse darauf hin, dass das Schreiben als Antragstellung nach § 5 Abs. 3 SGB II gelte. Die Beigeladene bat die Familienkasse ferner, sie vor Bewilligung des Kindergeldes zu benachrichtigen und die Nachzahlung zunächst einzubehalten. Die Höhe des Erstattungsanspruchs werde sodann mitgeteilt. Zudem teilte die Beilgeladene mit, dass Leistungen für den Folgemonat bereits zum 20. des laufenden Monats zur Zahlung angewiesen würden.
Das Schreiben der Beigeladenen vom 16. September 2016 ging bei der Familienkasse ein. Es wurde jedoch zunächst nicht der (Kindergeld-) Akte der Klägerin zugeordnet, sondern für die Klägerin wurde wohl aufgrund eines Schreibfehlers der Bediensteten der Familienkasse eine neue Akte angelegt. Diese Akte wurde zunächst nicht weiterbearbeitet.
Am 21. November 2016 stellte die Klägerin bei der Familienkasse einen Antrag auf Bewilligung von Kindergeld für N und übersandte der Beigeladenen am 24. November 2016 eine Kopie des Antrags auf Kindergeld mit Eingangsstempel der Familienkasse Y (Akte ALG II Bl. 62-64).
Die Familienkasse setzte darauf mit Bescheid vom 25. November 2016 Kindergeld für N ab August 2016 bis August 2034 i. H. v. 190 EUR monatlich fest. Der Nachzahlungsbetrag i. H. v. 760 EUR für August 2016 bis November 2016 wurde der Klägerin am 30. November 2016 überwiesen. Die folgenden monatlichen Kindergeldzahlungen überwies die Familienkasse zu den gesetzlichen Fälligkeitszeitpunkten, für Dezember 2016 erstmals am 7. Dezember 2016.
Die Beigeladene erinnerte die Familienkasse mit Schreiben vom 19. Mai 2017 an ihren Erstattungsanspruch. Zugleich setzte die Beigeladene mit Bescheid vom 19. Mai 2017 gegenüber der Klägerin die Leistungen nach dem SGB II (ALG II bzw. Sozialgeld) neu fest, wobei das von der Klägerin bezogene Kindergeld bei der Berechnung des Leistungsanspruchs (weiterhin) unberücksichtigt blieb.
Die Familienkasse lehnte mit Schreiben vom 1. Juni 2017 eine Erstattung ab, da ein „Erstattungsanspruch vom 16.08.2016” (gemeint wohl: ein Erstattungsantrag vom 16.09.2016) nicht vorliege.
Die Klägerin stellte am 29. Juni 2017 bei der Beigeladenen einen „Weiterbewilligungsantrag” für Leistungen nach dem SGB II. Die Klägerin gab dabei an, dass sie für N Kindergeld i. H. v. 192 EUR erhalte (Akte ALG II Bl. 85). Die Beigeladene setzte daraufhin mit Bescheid vom 3. August 2017 die Leistungen nach dem ...