Entscheidungsstichwort (Thema)
Klagefrist. Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung durch Boten. Verschulden bei der Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Form der Bekanntgabe der Einspruchentscheidung steht im Ermessen des zuständigen FA, so dass dieses auch durch einen Boten überbracht werden kann.
2. Die Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes finden auf die Bekanntgabe durch Einlegen in den Briefkasten keine Anwendung und sind deshalb ohne Bedeutung.
3. Eine behördliche Anordnung der Zustellung setzt voraus, dass der Wille, den betreffenden Verwaltungsakt durch förmliche Zustellung zu übermitteln, aus dem Akteninhalt deutlich wird.
4. Wird ein Verwaltungsakt durch Einlegen in den Briefkasten bekannt gegeben, gilt die Vermutung des § 122 Abs. 2 AO nicht, so dass er bekanntgegeben ist, wenn er derart in den Machtbereich des Bekanntgabeadressaten gelangt ist, dass diesem die Kenntnisnahme normalerweise möglich war und von diesem auch erwartet werden konnte.
5. Die Frist für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beginnt nicht erst, wenn der Beteiligte oder sein Bevollmächtigter tatsächlich erkannt hat, dass die Frist des § 56 Abs. 1 FGO versäumt worden ist, sondern bereits dann, wenn das Weiterbestehen des Hindernisses nicht mehr als unverschuldet angesehen werden kann.
6. Liegen Umstände vor, die zu Zweifeln Anlass geben, ob die Frist eingehalten worden ist, oder hätten Zweifel aufkommen müssen, so fällt das Hindernis spätestens in dem Zeitpunkt weg, in dem durch eine Nachfrage Gewissheit über die Rechtzeitigkeit des Handelns hätte erlangt werden können. Hierfür reicht aus, dass ein Beteiligter dem säumigen Beteiligten mitteilt, dass die Rechtsbehelfsfrist nicht eingehalten worden ist.
Normenkette
FGO §§ 47, 56, 96 Abs. 1 S. 1, § 97; AO § 122 Abs. 1 Sätze 1, 3, Abs. 2, 5, § 366
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Streitig ist u.a., ob unentgeltliche Wertabgaben i.S. des § 3 Abs. 1b Satz 1 Nr. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) vorliegen, wenn ein Vermittler von Mobilfunkverträgen den Kunden bei Abschluss eines Mobilfunkvertrags „kostenlos” Mobilfunktelefone liefert. Im Verlauf des Klageverfahrens ist außerdem streitig geworden, ob der Kläger die Klagefrist eingehalten hat.
Der Kläger betrieb in den Streitjahren ein Mobilfunkgeschäft „mobile”. Er erklärte zum 1. März 2010 die Betriebsaufgabe.
Der Beklagte (das Finanzamt –FA–) erließ im Anschluss an eine Außenprüfung (Bericht vom 26. März 2012) am 20. Juli 2012 die hier streitigen Einkommensteuerbescheide 2008 und 2009, die Gewerbesteuermessbescheide 2008 und 2009 sowie die Umsatzsteuerbescheide 2008 und 2009. Das FA leitete außerdem gegen den Kläger am 30. Juni 2011 ein Steuerstrafverfahren ein, das bis heute nicht abgeschlossen ist.
Der damalige Bevollmächtigte des Klägers legte gegen diese Bescheide Einspruch ein, die er nicht begründete. In einem Telefonat am 26. November 2012 teilte der damalige Bevollmächtigte dem Sachbearbeiter der Rechtsbehelfsstelle mit, das Mandat sei inzwischen beendet; die Einspruchsentscheidung solle an den neuen Bevollmächtigten adressiert werden.
Der neue Bevollmächtigte hatte bereits mit Schreiben vom 28. September 2012 die Vertretung des Klägers angezeigt. Er unterhielt in den Jahren 2012 und 2013 sowohl in Y als auch in X (als Zweigstelle) Kanzleiräume. Sein Bruder, Mika K, betreibt in X in denselben Räumlichkeiten ein Buchführungsbüro.
Der Sachbearbeiter erstellte die Einspruchsentscheidung laut der sich in der Rechtsbehelfsakte befindlichen Abschrift am Montag, den 26. November 2012 („erstellt am: 26.11.2012”). Die Einspruchsentscheidung trägt das Datum „27. November 2012”. Auf Seite 1 der Einspruchsentscheidung steht „Zustellung durch Einlegen in den Briefkasten”. Auf Seite 3 steht maschinengeschrieben „Orig. + MF in den Kanzlei-Briefkasten eingeworfen am 27.11.20012 um __ Uhr”; handschriftlich wurde „7:13” ergänzt und darunter das Unterschriftskürzel des Sachbearbeiters angebracht.
Die Rechtsbehelfsbelehrung der Einspruchsentscheidung lautet auszugsweise: „Die Frist zur Erhebung der Klage beträgt einen Monat. Sie beginnt mit Ablauf des Tages, an dem Ihnen die Einspruchsentscheidung bekannt gegeben worden ist (§ 47 Abs. 1 FGO). Bei Zusendung der Entscheidung durch einfachen Brief an einen Empfänger innerhalb der Bundesrepublik Deutschland gilt die Bekanntgabe mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bewirkt, es sei denn, dass die Entscheidung zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 366 AO). Im Falle der Zustellung der Entscheidung durch einen (Amts-)Boten mittels Einlegen in den Briefkasten des Empfängers gilt die Entscheidung mit der Einlegung in den Briefkasten als zugestellt.”
Der Sachbearbeiter legte die kuvertierte Einspruchsentscheidung nach seinem Vortrag am Dienstag, den 27. November 2012, um 7:13 Uhr persönlich in den Briefkasten des Bevollmächtigten ein. Er heftete eine Kopie des Briefumschlags ...