Entscheidungsstichwort (Thema)
Auswertung von Kontrollmaterial über Feststellungen, die auf Unterlagen beruhen, für die dem Grunde nach Vorlageverweigerungsrechte aus § 104 Abs. 1 AO bestehen
Leitsatz (redaktionell)
1. Es ist ernstlich zweifelhaft, ob das Finanzamt im Rahmen einer Außenprüfung festgestellte Verhältnisse, die für die Besteuerung anderer Steuerpflichtiger von Bedeutung sind, auswerten darf, wenn die Feststellungen auf Unterlagen beruhen, für die dem Grunde nach Vorlageverweigerungsrechte aus § 104 Abs. 1 AO bestehen.
2. Fertigt ein Betriebsprüfer Kontrollmitteilungen über anlässlich der Prüfung eines Rechtsanwalt festgestellte Verhältnisse von dessen Mandanten, ohne den Rechtsanwalt oder den betroffenen Mandanten vorab über diese Absicht zu informieren, begegnet die Frage, ob das Kontrollmaterial bei der Besteuerung des Mandanten ausgewertet werden darf, selbst dann ernstlichen Zweifeln, wenn der Rechtsanwalt dem Prüfer die Kanzleiunterlagen nicht in neutralisierter Form vorgelegt hat.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 3 S. 1, Abs. 2 S. 2; AO §§ 102, 104 Abs. 1; StGB § 203; GG Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4
Tenor
Die Vollziehung des Umsatzsteuerbescheids 2015 vom 29.01.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.10.2021 wird mit Wirkung vom Fälligkeitstag bis zum Ablauf eines Monats nach Zustellung einer abschließenden Entscheidung in dem Verfahren 7 K 7160/21 ausgesetzt.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Antragsgegner auferlegt.
Die Beschwerde wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darum, ob der Antragsgegner ihm vorliegendes Kontrollmaterial zu Recht zum Anlass genommen hat, entsprechende Umsatzsteuer gegenüber der Antragstellerin festzusetzen.
Die Antragstellerin beauftragte im Streitjahr Rechtsanwälte, die Mitglieder ihrer Prozessbevollmächtigten, mit der Wahrnehmung ihrer rechtlichen Interessen gegenüber einer B… GmbH mit Sitz in C…. Mit Anwaltsschriftsatz vom 21.04.2015 forderte die Antragstellerin die B… GmbH auf, eine rückständige Zahlung aus einer Rechnung vom 08.01.2015 (Nr. 12/2015) in Höhe von 21.704,71 EUR durch Zahlung auf das Fremdgeldkonto der Rechtsanwälte zu begleichen. Die Rechnung liegt in Kopie vor. Danach berechnete die Antragstellerin der B… GmbH für die Lieferung von Sonderposten von Taschen, Kleinlederwaren und Koffern 18.239,25 EUR zuzüglich 3.465,46 EUR Umsatzsteuer (zusammen 21.704,71 EUR). Mit weiterem Anwaltsschriftsatz vom 01.06.2015 forderte die Antragstellerin die B… GmbH auf, eine rückständige Zahlung aus einer Rechnung vom 16.04.2015 (Nr. 104/2015) in Höhe von 35.750,00 EUR wiederum durch Zahlung auf das Fremdgeldkonto der Rechtsanwälte zu begleichen. Insoweit liegt die genannte Rechnung nicht vor, lediglich eine Anwaltsrechnung für diesen Vorgang über 146,88 EUR zuzüglich 27,91 EUR Umsatzsteuer. Die angeforderten Zahlungen gingen auf dem Fremdgeldkonto ein und wurden – nach Verrechnung mit offenen Gebührenforderungen – dem Geschäftsführer der Antragstellerin im Streitjahr ausgezahlt.
Die Antragstellerin reichte zunächst für die Veranlagungszeiträume ab 2012 weder Umsatzsteuererklärungen, noch Jahresabschlüsse ein.
In den Jahren 2014 und 2015 beantragte der Antragsgegner zweimal erfolglos beim Amtsgericht D… – Handelsregister – die Löschung der Antragstellerin als vermögenslos. Dabei legte die Antragstellerin eine Versicherungspolice vor, nach der ihr früherer, im Jahre 2011 abberufener Geschäftsführer für die Versicherungsleistungen bezugsberechtigt war.
Am 22.08.2019 gingen dem Antragsgegner zwei Kontrollmitteilungen des Finanzamts E… mit der Steuer-Nr. der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin und dem Geschäftszeichen „…” zu, denen die oben genannten Unterlagen über den Schriftverkehr mit der B… GmbH beigefügt waren. Die Kontrollmitteilungen enthalten den Vermerk „erhalten von Anwaltsbüro F…”.
Dies nahm der Antragsgegner zum Anlass, mit Bescheid vom 29.01.2021 ausgehend von geschätzten Besteuerungsgrundlagen eine Umsatzsteuer 2015 in Höhe von 9.173,39 EUR festzusetzen, wobei der Antragsgegner von steuerpflichtigen Umsätzen in Höhe von 48.281,00 EUR ausging und keine Vorsteuer berücksichtigte. Davon ausgehend setzte er die Umsatzsteuer auf 9.173,39 EUR fest.
Gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin am 22.02.2021 Einspruch ein, den sie mit ihren Umsatzsteuererklärungen 2012 bis 2020 in Papierform begründete (jeweils mit der Angabe „0 EUR” für Umsätze und Umsatzsteuer). Ferner gab sie an, seit 2011 keinen laufenden Geschäftsbetrieb mehr zu haben und seitdem auch keine Umsätze zu generieren. Die streitbefangenen Vorgänge hätten der Rückabwicklung gedient und seien daher steuerneutral. Jedenfalls bestehe ein Beweisverwertungsverbot, da die Steuerbehörde in der Kanzlei ihrer Bevollmächtigten eine Prüfung des Fremdgeldkontos vorgenommen und dieses trotz der Verschwiegenheitspflicht der Rechtsanwälte zur Grundlage des hiesigen Verfahrens genommen habe.
Der Antragsgegner wies den Einspruch mit der am 01.11.2021 zugestellten Einspruchsentscheidung vo...