rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschluss des Vorsteuerabzugs bei zu erwartender Kenntnis des Beziehers von Stromlieferungen über die Einbeziehung des ausländischen Stromlieferanten in einen Mehrwertsteuerbetrug: Verschuldensmaßstab bei der Beurteilung des Erkennenkönnens der Beteiligung am Mehrwertsteuerbetrug. Behandlung der bloßen Nichtabführung einer angemeldeten Umsatzsteuer als Betrug ernstlich zweifelhaft
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Vorsteuerabzug scheidet aus, wenn aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der Leistungsempfänger wusste oder hätte wissen können, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligte, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war.
2. Höchstrichterlich ungeklärt ist, welcher Verschuldensmaßstab (z.B. jegliche Form von Fahrlässigkeit, Vorsatz) für die Frage, ob ein Unternehmen hätte wissen können, dass es sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteiligte, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war, zugrunde zu legen ist. Im summarischen Verfahren der Aussetzung der Vollziehung muss insoweit von den höchsten in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Anforderungen, also dem Vorliegen mindestens bedingten Vorsatzes ausgegangen werden, d. h., dass die Verantwortlichen des Unternehmens der Leistungsempfängerin die Verkürzung der vom Lieferanten geschuldeten Umsatzsteuer als möglich und nicht ganz fernliegend erkannt haben und damit in der Weise einverstanden waren, dass sie die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf genommen oder sich um des erstrebten Zieles willen wenigstens mit ihr abgefunden haben, mag ihnen auch der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein (vgl. Kammergericht, Beschluss v. 4.12.2016, (4) 121 Ss 175/16, 205/16; im Streitfall: bei Gesamtwürdigung aller Umstände kein bedingter Vorsatz der Klägerin, die Stromlieferungen von einer in Ungarn ansässigen Gesellschaft erhalten hat, im Hinblick auf einen Umsatzsteuerbetrug der ungarischen Gesellschaft durch fingierte Rechnungen über Leistungsbezüge, die keinen Zusammenhang mit den Stromlieferungen auswiesen).
3. Es ist ernstlich zweifelhaft, ob die bloße Nichtabführung einer angemeldeten Umsatzsteuer einen Mehrwertsteuerbetrug im obigen Sinne darstellen würde.
Normenkette
FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1; UStG § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 S. 2, Abs. 1 Nr. 4, § 3g Abs. 1 S. 1, § 13b Abs. 2 Nr. 5, Abs. 5 S. 2
Tenor
Die Vollziehung der Umsatzsteuerbescheide 2012 und 2013 vom 11.04.2019 wird mit Wirkung vom Fälligkeitstag bis zum Ablauf eines Monats nach Bekanntgabe einer abschließenden Entscheidung über den Einspruch vom 12.04.2019 in Höhe von 469.315,66 EUR für 2012 und 1.037.863,75 EUR für 2013 ohne Sicherheitsleistung ausgesetzt.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Antragsgegner auferlegt.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten darum, ob der Antragstellerin der Vorsteuerabzug aus Gutschriften zusteht, die die Antragstellerin einer ihrer Stromlieferantinnen erteilt hat.
Gegenstand der am 25.10.2006 gegründeten Antragstellerin war in den Streitjahren die Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen für Stadtwerke, um die örtliche Energieversorgung zu stärken. Darüber hinausgehend handelte die Antragstellerin bereits in den Streitjahren mit Strom, den sie – jedenfalls teilweise – von einer seinerzeit in B… ansässigen C… GmbH bezog, der sie im Zeitraum vom 10.10.2012 bis zum 27.02.2013 entsprechende Gutschriften erteilte. Wegen der Beträge im Einzelnen nimmt das Gericht auf die Aufstellung des Antragsgegners (Bl. 101 Betriebsprüfungsakte –BpA–) und die beispielhaften Kopien im Arbeitsbogen Bezug. Die Zahllasten zugunsten der C… GmbH wurden durch Banküberweisungen beglichen.
Die C… GmbH wurde am 12.12.2006 unter anderer Firma gegründet und hatte u.a. den Handel mit Waren aller Art zum Gegenstand. Nach den Handelsregistereintragungen waren ihre Geschäftsführer in Ungarn und der Prokurist D… in E… ansässig. Aufgrund eines Beschlusses ihrer Gesellschafterversammlung vom 09.11.2011 (im Handelsregister eingetragen am 15.12.2011) änderte sie ihren Gegenstand dahin gehend, dass er u.a. den Großhandel mit Strom umfasste. Ferner firmierte sie von nun an als C… GmbH. Zum Geschäftsführer wurde der nach der Eintragung im Handelsregister in der Slowakei ansässige ungarische Staatsangehörige F… bestellt, der seit dem 09.11.2011 auch Alleingesellschafter der C… GmbH war. Nach einer Sitzverlegung lehnte das Amtsgericht G… mit Beschluss vom 06.06.2017 die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens mangels Masse ab, worauf die C… GmbH am 02.10.2018 im Handelsregister wegen Vermögenslosigkeit gelöscht wurde (Bl. 20 f. Rechtsbehelfsakte –RbA–).
Am 16.07.2012 erteilte das für die C… GmbH zuständige Finanzamt H… dieser eine Bescheinigung in Steuersachen, in der dieser bescheinigt wird, dass die festgesetzten und fälligen Steuern entrichtet und die steuerlichen Erklärungspflichten erfüllt seien. Ferner ist vermerkt, dass die Umsatzsteuer-Voranmeldungen bis einschließlich zum 1. Quartal 2012 vorlägen (Bl. 57 ...