Entscheidungsstichwort (Thema)
Abzweigung von Kindergeld. Erfüllungsfiktion bei Doppelleistung von Familienkasse und Jobcenter. Kongruenz der Leistungen. Kenntnis der Familienkasse von den Leistungen des Jobcenters
Leitsatz (redaktionell)
1. Besteht ein Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X, tritt die Erfüllungsfiktion insbesondere auch dann ein, wenn der vorrangig verpflichtete Leistungsträger – hier die Familienkasse – bereits geleistet hat, bevor der Träger der Sozialleistungen – Jobcenter – seinerseits Leistungen an den Berechtigten erbracht hat. Aufgrund der Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X gilt die Zahlung des Jobcenters in diesem Fall als Leistung der Familienkasse.
2. § 102 Abs. 1 SGB X gilt nur für solche vorläufigen Leistungen, die ihre Grundlage in einer Ungewissheit über die Leistungszuständigkeit des angegangenen Leistungsträgers haben.
3. Eine Erbringung von Sozialleistungen durch das Jobcenter an das Kind im Sinne von § 103 Abs. 1 SGB X liegt vor, wenn Leistungen ohne bedarfsmindernde Anrechnung des an das Kind abgezweigten Kindergeldes gewährt wurden.
4. Die von dem erstattungsberechtigten Leistungsträger (Jobcenter) erbrachte Leistung und die von dem „zuständigen Leistungsträger” (Familienkasse) geschuldete Leistung müssen in sachlicher, zeitlicher und persönlicher Hinsicht kongruent sein.
5. Die Familienkasse hat die von § 103 Abs. 1 SGB X bzw. § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X vorausgesetzte Kenntnis der Leistungen des Jobcenters, wenn in einem Schreiben die von dem Jobcenter zur Erstattung angemeldeten Beträge monatsweise aufgegliedert aufgeführt sind und gleichzeitig das Jobcenter auf den – infolge der Abzweigung – dem Kind zustehenden Kindergeldanspruch Bezug nimmt.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1 S. 1, Abs. 2; SGB X § 102 Abs. 1, § 103 Abs. 1, § 104 Abs. 1 S. 1, § 107 Abs. 1
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Der Streitwert für das Verfahren beträgt ... Euro.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin aufgrund einer für die Monate Januar 2015 bis September 2015 erfolgten Abzweigung von Kindergeld (aus dem Anspruch der Mutter der Klägerin an die Klägerin) zusätzlich zu der erfolgten Auszahlung von 246,65 Euro weitere 59,35 Euro Kindergeld auszahlen muss.
Auf den Antrag der Mutter der Klägerin setzte die Familienkasse zunächst Kindergeld für die am 02. Juli 1995 geborene Klägerin fortlaufend fest.
Unter dem 15. Oktober 2013 beantragte die Klägerin, ihr das Kindergeld anteilig auszuzahlen, da ihre Mutter keinen Unterhalt leiste. Die hierzu angehörte Mutter der Klägerin erklärte unter dem 18. November 2013, dass sie keinen Unterhalt für ihre Tochter leiste.
Mit an die Mutter der Klägerin adressiertem Bescheid vom 11. Dezember 2013 setzte die Familienkasse Kindergeld für die Klägerin für den Zeitraum ab August 2013 fest und bestimmte zugleich, dass ein betragsmäßig genau bezeichneter Anteil des festgesetzten Kindergeldes nicht an die Mutter der Klägerin, sondern an die Klägerin ausgezahlt werde (sog. Abzweigung). Parallel dazu erteilte die Familienkasse auch der Klägerin unter dem 11. Dezember 2013 den Bescheid, dass das Kindergeld teilweise an sie ausgezahlt werde.
Mit Schreiben vom 01. September 2014 meldete das Jobcenter bei der Familienkasse einen Erstattungsanspruch nach den §§ 102 ff. SGB X an. Dazu teilte das Jobcenter mit, die Klägerin sowie die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen, die in dem Schreiben nicht namentlich benannt sind, stünden bei dem Jobcenter im Leistungsbezug. Die Klägerin habe möglicherweise für ihren Sohn, das Kind B einen Anspruch auf Kindergeld.
Mit Schreiben vom 01. April 2015 und nochmals mit Schreiben vom 27. April 2015 meldete das Jobcenter bei der Familienkasse einen Erstattungsanspruch nach den §§ 102 ff. SGB X an. Dazu teilte das Jobcenter mit, die Klägerin sowie die mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen, die in dem Schreiben nicht namentlich benannt sind, stünden bei dem Jobcenter seit dem 01. Mai 2014 im Leistungsbezug. Die Klägerin habe möglicherweise einen Anspruch auf Kindergeld.
Die Familienkasse teilte dem Jobcenter mit Schreiben vom 08. April 2015 mit, dass dem Erstattungsersuchen nicht entsprochen werden könne, weil sich die Klägerin nach dem Kenntnisstand der Familienkasse in Elternzeit befinde und kein Anspruch auf Kindergeld bestehe.
Unter dem 08. April 2015 beantragte die Mutter der Klägerin Kindergeld für die Klägerin und verband dies mit dem Antrag auf Abzweigung dieses Kindergeldes an die Klägerin.
Mit Schreiben vom 21. Mai 2015 beantragte das Jobcenter bei der Familienkasse die Festsetzung von Kindergeld für die Klägerin und führte dazu aus, dass die bei dem Jobcenter im Leistungsbezug stehende Klägerin trotz dahingehender Aufforderung Kindergeld für sich selbst nicht beantragt habe. Gleichzeitig machte das Jobcenter wiederum einen Erstattungsanspruch nach den §§ 102 ff. SGB X geltend.
Die Klägerin erklärte unter dem 01. August 2015 zu dem gestellten...