rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch für volljähriges behindertes Kind ungeachtet der Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises erst nach Überschreitung der in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG genannten Altersgrenze
Leitsatz (redaktionell)
1. Der im Schwerbehindertenausweis festgestellte Grad der Behinderung spricht für oder gegen die Ursächlichkeit der Behinderung für eine fehlende Erwerbstätigkeit des Kindes.
2. Wurde der Schwerbehindertenausweis erst nach Überschreiten der Altersgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG (früher: 27. Lebensjahr; jetzt: 25. Lebensjahr) erstellt, so sagt das Ausstellungsdatum nichts darüber aus, ob die Behinderung des Kindes wie für den Kindergeldanspruch erforderlich vor oder erst nach Erreichen der in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG aufgeführten Altersgrenze eingetreten ist. Der Nachweis des Eintritts der Behinderung des Kindes vor Erreichen der Altersgrenze kann daher durch anderweitige Unterlagen erbracht werden.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 S. 2, § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3, § 52 Abs. 40 S. 8; SchwbG § 4; SGB IX § 69
Tenor
Der Bescheid vom 3. April 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 13. Mai 2013 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Kindergeld für ihren Sohn G zu bewilligen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, sofern nicht die Klägerin zuvor Sicherheit leistet.
Tatbestand
Die Klägerin ist die Mutter des am 12. Juli 1940 geborenen Sohnes G. Sie streitet mit der Beklagten darum, ob ihr für G trotz der Vollendung des 25. Lebensjahres Kindergeld zusteht.
Die Klägerin beantragte am 9. November 2012 Kindergeld für ihren Sohn (KiG, Bl. 1). Sie fügte dem Antrag den Schwerbehindertenausweis von G bei, in dem dessen Grad der Behinderung mit 100 % festgestellt wurde (KiG, Bl. 5). G lebt in einer Pflegeeinrichtung der Lebenshilfe W, in der er vollstationär untergebracht ist (KiG, Bl. 2). Zugleich mit dem Antrag (KiG, Bl. 4) und in der Folge (KiG, Bl. 8 ff.) reichte die Klägerin diverse Nachweise zum Vorliegen der Behinderung ihres Sohnes ein.
Mit Bescheid vom 3. April 2013 (KiG, Bl. 12) lehnte die Beklagte den Kindergeldantrag mit der Begründung ab, die Behinderung von G sei „nach den vorliegenden Unterlagen nicht vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten”. Den hiergegen von der Klägerin am 25. April 2013 eingelegten Einspruch (KiG, Bl. 13) wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 13. Mai 2013 als unbegründet zurück (KiG, Bl. 26 ff.).
Am 4. Juni 2013 hat die Klägerin Klage erhoben (Bl. 1).
Die Klägerin beantragt sinngemäß (Bl. 1),
unter Aufhebung des Bescheides vom 3. April 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 13. Mai 2013 die Beklagte zu verpflichten, ihr Kindergeld für G zu bewilligen.
Die Klägerin macht geltend, die unstreitig vorliegenden Voraussetzungen der Berücksichtigung als „behindertes Kindes” hätten bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres bei G vorgelegen. Sie beruft sich dabei auf die vorgelegten Nachweise.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
die Klage abzuweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie die Akten der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und auch begründet. Der Klägerin steht Kindergeld für ihren Sohn G zu.
1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V. mit § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein volljähriges Kind ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist (zur Anwendung der früheren Altersgrenze vgl. § 52 Abs. 40 Satz 8 EStG).
2. Allein streitig ist die Frage, ob die bei G vorliegende Behinderung, die ihn außerstande setzt, Einkünfte oder Bezüge zur Selbstunterhaltung zu erzielen, vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist oder erst danach.
Der Senat bejaht diese Frage unter Heranziehung sämtlicher Erkenntnisquellen uneingeschränkt. Bereits der Bericht der Universitäts-Nervenklinik H vom 14. Juli 1955 – damals war der Sohn der Klägerin 15 Jahre alt – macht deutlich, dass die geistige Behinderung schon im Kindesalter zutage getreten ist und offensichtlich auf einen Geburtsfehler zurückzuführen war. Insoweit wird eine Debilität festgestellt (KiG, Bl. 14 f.). Die Prognose ging schon damals dahin, der Sohn der Klägerin werde „einen Beruf … kaum erlernen” können. Diese Einschätzung deckt sich mit anderen Feststellungen. So heißt es in einem Arztbrief vom 8. Mai 1972 (KiG, Bl. 16), bei G liege „ein frühkindlicher Hirnschaden” vor. Ein ärztliches Gutachten vom 9. Juni 1978 benennt eine „geistige Minderentwicklung” und einen „frühkindlichen Hirnschaden mit Schwachsinn II. Grades” (KiG, Bl. 18) und bezeichnet die Ursache hierfür mit „frühkindlicher Hirnschädigung ...