vorläufig nicht rechtskräftig
Revision zugelassen durch das FG
Entscheidungsstichwort (Thema)
Abzweigung des Kindergelds an das Kind – Wegfall der Unterhaltspflicht mangels Bedürftigkeit – Relevanz der zugleich fehlenden Leistungsfähigkeit des Kindergeldberechtigten – Analoge Anwendung des § 74 Abs. 1 EStG
Leitsatz (redaktionell)
- Ein Kind kann die (anteilige) Abzweigung des Kindergelds an sich selbst weder nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG noch nach § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG beanspruchen, wenn aufgrund seiner hinreichenden eigenen Einkünfte mangels Bedürftigkeit keine Unterhaltsverpflichtung des Kindergeldberechtigten mehr besteht.
- Ein Abzweigungsanspruch nach § 74 Abs.1 Satz 3 EStG setzt voraus, dass die Unterhaltsverpflichtung allein aufgrund der fehlenden Leistungsfähigkeit des Kindergeldberechtigten entfallen ist.
- In der Konstellation, dass ein nicht bedürftiges Kindes zu Lasten eines nicht leistungsfähigen Kindergeldberechtigten die Abzweigung begehrt, erscheint auch eine analoge Anwendung des § 74 Abs. 1 EStG – wie sie bei einer kraft Gesetzes fehlenden Unterhaltspflicht von der Rechtsprechung befürwortet wurde (vgl. BFH-Urteil vom 16.04.2002 VIII R 50/01, BStBl II 2002, 575) - nicht geboten.
Normenkette
EStG § 31 S. 2, § 74 Abs. 1 Sätze 1, 3
Tatbestand
Für die Klägerin (geboren im Juni 1995) bezog ihre Mutter Kindergeld. Anfang August 2013 begann die Klägerin eine 2 ½- jährige Ausbildung bei einer Bank. Ende Februar 2014 beantragte sie bei der Beklagten (der Familienkasse) die Abzweigung des Kindergelds aus dem Anspruch der Mutter an sich selbst. Sie teilte mit, dass sie inzwischen in einer eigenen Wohnung lebe. Angaben über die Höhe des von ihrem Vater bzw. ihrer Mutter geleisteten Unterhalts machte sie zunächst nicht.
Die Mutter der Klägerin äußerte auf Nachfrage der Familienkasse, sie leiste ihrer Tochter - ungeachtet deren Ausbildungsvergütung - laufenden Unterhalt in Höhe von 105 € monatlich für ein Ballettstudio (laut beigefügten Kontoauszügen), daneben habe sie der Tochter die Mietkaution für ihre Wohnung (440 € im Juli 2013), Kleidungsstücke, Haushaltsgegenstände u. ä. bezahlt.
Die Familienkasse lehnte daraufhin die Abzweigung ab (Bescheid vom 24.03.2014). Sie führte aus, eine Abzweigung sei nicht möglich, weil die Klägerin von ihrer Mutter Barunterhalt sowie Sachleistungen erhalte.
Hiergegen erhob die Klägerin Einspruch. Sie erklärte, weder ihre Mutter noch ihr Vater leisteten Unterhalt – es seien keinerlei Barzahlungen der Mutter an sie erfolgt. Die einzige (Sach-) Leistung, die die Mutter erbringe, sei die Übernahme des monatlichen Mitgliedsbeitrages für das Ballettstudio, der sich auf 90 € belaufe. Derzeit bestehe kein persönlicher Kontakt mehr. Damit seien die Abzweigungsvoraussetzungen gegeben. Das Kindergeld sei bereits ab März 2014 an die Klägerin auszuzahlen. Die Mutter der Klägerin bestand demgegenüber auf der Auszahlung des Kindergelds. Sie trug vor, sie erhalte von ihrem geschiedenen Ehemann für sich und ihre 3 weiteren Kinder keinerlei Unterhalt; Pfändungen bei dem Kindesvater wegen Unterhaltsrückständen seien derzeit nicht möglich. Sie sei deshalb dringend auf das Kindergeld angewiesen. Deshalb habe sie seit März 2015 auch die Zahlungen für den Ballettunterricht der Töchter einstellen müssen.
Die Familienkasse wies schließlich den Einspruch für den Zeitraum März 2014 bis Februar 2015 als unbegründet zurück (Einspruchsentscheidung vom 29.04.2015). Sie führte zur Begründung aus, im Rahmen der Sachverhaltsermittlung sei keine Unterhaltspflichtverletzung der Mutter feststellbar. Auch in Anbetracht der unterschiedlichen Angaben der Beteiligten seien die Voraussetzungen für eine Abzweigung sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach nicht erkennbar.
Nachdem die Mutter erklärt hatte, sie leiste der Klägerin ab März 2015 keinen Unterhalt mehr und sei insofern mit einer Abzweigung einverstanden, verfügte die Familienkasse die Abzweigung des anteiligen Kindergelds der Mutter an die Klägerin ab März 2015 (Bescheid vom 1.06.2015). Zugleich zahlte die Familienkasse das bisher einbehaltene anteilige Kindergeld für März 2014 bis Februar 2015 an die Mutter aus, allerdings unter dem Vorbehalt des Widerrufs gemäß § 120 Abs. 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO).
Mit ihrer fristgerecht erhobenen Klage beansprucht die Klägerin die Abzweigung des Kindergelds für März 2014 bis Februar 2015 in Höhe von monatlich 99 €. Das Gericht hat die Mutter der Klägerin notwendig zum Klageverfahren beigeladen (Beschluss vom 27.11.2015).
Zur Begründung trägt die Klägerin vor, die Beigeladene habe im Streitzeitraum einen Familienbeitrag für das Ballettstudio gezahlt, der neben der Klägerin auch ihrer jüngeren Schwester zugutegekommen sei. Die monatlichen Leistungen der Beigeladenen seien höchstens mit 85 € anzusetzen (entsprechend dem Einzelbeitrag); angesichts eines Kindergeldbetrags von 184 € seien 99 € abzuzweigen. Da die Abzweigungsvoraussetzungen dem Grunde nach vorlägen, sei das (Entschließungs-) Ermessen der Familienkasse durch die ...