Entscheidungsstichwort (Thema)
Verstoß gegen Treu und Glauben bei einer Berufung auf die Bestandskraft eines Bescheides
Leitsatz (redaktionell)
- Aus der Tatsache, dass ein Kindergeldaufhebungsbescheid trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens zur Frage der Berücksichtigung der Arbeitnehmer-Sozialversicherungsbeiträge im Rahmen der Grenzbetragsberechnung nicht mit einem Vorläufigkeitsvermerk nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO versehen wurde, ergibt sich kein Vertrauenstatbestand, der die Berufung auf die eingetretene Bestandskraft treuwidrig erscheinen ließe.
- Die Änderung der Normauslegung in Bezug auf die Grenzbetragsberechnung durch die Entscheidung des BVerfG führt nicht zur Durchbrechung der Bestandskraft eines solchen Aufhebungsbescheids gemäß § 70 Abs. 4 EStG.
- Das gilt auch dann, wenn dieser Aufhebungsbescheid während eines Kalenderjahrs als Prognoseentscheidung über die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes ergangen ist.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 2, § 70 Abs. 4; AO §§ 89, 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
Streitjahr(e)
2003, 2004
Tatbestand
Streitig ist, ob dem Kläger Kindergeld für den Zeitraum 01.01.2003 bis 30.06.2004 für den Sohn B zu gewähren ist.
Der Sohn des Klägers befand sich vom 01.08.2002 bis 24.06.2004 in einer Ausbildung zum Industriekaufmann. Mit Bescheid vom 02.08.2004 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für den Sohn ab Januar 2003 mit der Begründung auf, das Einkommen des Kindes überschreite nach den vorliegenden Unterlagen den maßgeblichen Grenzbetrag. Mit weiterem Bescheid vom 02.08.2004 hob die Beklagte die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2004 auf. Zur Begründung führte sie aus, das Einkommen des Sohnes im Zeitraum Januar bis Juni 2004 übersteige voraussichtlich den anteiligen Grenzbetrag von 3.840 EUR. Dieser Bescheid enthält am Ende der Rechtsbehelfsbelehrung folgenden Hinweis:
„Falls nach Ablauf des Jahres feststeht, dass die Einkünfte und Bezüge Ihres Kindes den Grenzbetrag nicht überschritten haben, können Sie einen erneuten Antrag auf Festsetzung des Kindergeldes stellen.”
Mit Schreiben vom 11.07.2005 beantragte der Kläger im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 (Az. 2 BvR 167/02) die Zahlung von Kindergeld ab Januar 2003.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 02.08.2005 unter Hinweis auf die bestandskräftigen Bescheide vom 02.08.2004 ab.
Dagegen hat der Kläger nach erfolglos gebliebenem Einspruchsverfahren Klage erhoben. Er ist der Auffassung: Ungeachtet der Entscheidungen des BFH vom 28.06.2006 III R 13/06 (Ablehnung der Anwendung des § 70 Abs. 4 EStG für abgeschlossene Zeiträume) und vom 28.11.2006 III R 6/06 (Ablehnung der Anwendung des § 70 Abs. 4 EStG für sog. Prognoseentscheidungen) sei hier eine Änderung der bestandskräftigen Aufhebungsbescheide vom 02.08.2004 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO möglich, da die Beklagte damals keine Kenntnis von den vom Sohn geleisteten Sozialversicherungsbeiträgen gehabt habe. Die amtlichen Formulare hätten nicht nach Sozialversicherungsbeiträgen gefragt und die Beklagte habe auch keine Lohnsteuerkarte angefordert. Die Tatsache, in welcher Höhe der Sohn Sozialversicherungsbeiträge gezahlt habe, sei daher erst nachträglich i.S.d. § 173 AO bekannt geworden. Grobes Verschulden i.S.d. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO könne dem Kläger nicht entgegengehalten werden, da die Sozialversicherungsbeiträge selbst nach Auffassung des BFH bisher nicht zu berücksichtigen waren.
Die Änderung könne auch nicht wegen der fehlenden Rechtserheblichkeit der neuen Tatsache versagt werden. Werde wie hier eine bisher verfassungswidrige Rechtsprechung des BFH vom Bundesverfassungsgericht korrigiert, könne dies nicht dazu führen, dass eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO wegen fehlender Rechtserheblichkeit der neuen Tatsache abgelehnt werde. Wenn nämlich der BFH was verfassungsrechtlich geboten gewesen wäre – in seiner früheren Rechtsprechung bereits den Abzug der Sozialversicherungsbeiträge zugelassen hätte, wäre die Kindergeldfestsetzung bei Kenntnis der Höhe der Sozialversicherungsbeiträge des Sohnes nicht aufgehoben worden.
Unabhängig davon vertrete sie die Auffassung, dass ungeachtet der o. g. BFH-Entscheidungen eine Berichtigung nach § 70 Abs. 4 EStG möglich sei, und zwar nicht nur für den Zeitraum 01.01.2004 bis 30.06.2004 – insofern liege unzweifelhaft eine Prognoseentscheidung vor – , sondern auch für das Jahr 2003. Denn in dem Aufhebungsbescheid vom 02.08.2004 für das Jahr 2003 habe die Beklagte ausgeführt, dass das Einkommen des Kindes nach den vorliegenden Unterlagen den maßgeblichen Grenzbetrag überschreite. Da dem Beklagten im Zeitpunkt dieser Entscheidung lediglich die Arbeitgeberbescheinigung über die Höhe der Ausbildungsvergütung vorgelegen habe, sei davon auszugehen, dass auch für das Jahr 2003 noch keine abschließende Prüfung der Höhe der Einkünfte und Bezüge vorgenommen worden sei, zumal weder die Höhe der Werbungskosten noch der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge ermittelt worden sei. Insofern beruhe auch...