rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch eines vorübergehend nach Deutschland entsandten polnischen Arbeitnehmers – Ausschließliche Sozialversicherungspflicht in Polen
Leitsatz (redaktionell)
- Einem vorübergehend nach Deutschland entsandten polnischen Arbeitnehmer, der ausschließlich der Sozialversicherungspflicht in Polen unterliegt, kann im Licht des in Art. 42 EGV garantierten Rechtes auf Freizügigkeit der Anspruch auf Kindergeld für seine in Polen lebenden Kinder nicht aufgrund des Ausschließlichkeitsgrundsatzes der Art. 13 Abs. 1, Art. 14 Nr. 1 VO Nr. 1408/71 versagt werden.
- Auch im Fall der vorübergehenden Entsendung von Arbeitnehmern ist es einem Mitgliedstaat, der nach den europarechtlichen Koordinationsvorschriften nicht als zuständiger Staat bestimmt ist, nicht verwehrt, nach seinem nationalen Recht einem Wanderarbeitnehmer, der in seinem Hoheitsgebiet vorübergehend eine Arbeit ausführt, Familienleistungen zu gewähren.
- Eine entgegenstehende Regelung existiert im deutschen Kindergeldrecht bislang nicht.
- Die Familienleistungen des nach den europarechtlichen Koordinationsvorschriften unzuständigen Mitgliedstaats Deutschland dürfen aber um die in dem vorrangig zuständigen Mitgliedstaat Polen ausgezahlten Familienleistungen gekürzt werden.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1; VO (EWG) Nr. 1408/71 Art. 1 Buchst. a, Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1 Buchst. h, Art. 13 Abs. 1 S. 1, Art. 14 Nr. 1; VO (EWG) Nr. 1408/71 Art. 76; EGV Art. 42; VO (EWG) Nr. 574/72 Art. 10
Tatbestand
Der Kläger, ein polnischer Staatsbürger, beantragte unter Angabe seines polnischen Familienwohnsitzes im Herbst 2009, fachkundig vertreten bei der Familienkasse „A” die Gewährung von Kindergeld für seine beiden Kinder „B” (geboren 1998) und „C” (geboren 2002). Der Antrag wurde abgelehnt, weil die Anspruchsvoraussetzungen für einen Kindergeldanspruch nicht erkennbar waren (Bescheid vom 9.09.2009).
Hiergegen erhob der Kläger Einspruch. Er teilte mit, sein Antrag beziehe sich auf die Jahre 2005 und 2006, in denen er als entsandter Arbeitnehmer für eine polnische Baufirma („D”) in Deutschland tätig gewesen sei; in Deutschland sei er nicht sozialversichert gewesen, habe allerdings in 2005 und 2006 einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Der Kläger reichte ein Schreiben des Finanzamts „E” ein, wonach er dort von Januar 2005 bis Dezember 2006 wegen eines gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt worden ist. Das Einspruchsverfahren wurde zuständigkeitshalber an die (für den Ort der Lohnabrechnungsstelle „F”) zuständige Familienkasse „G” abgegeben. Diese wies den Einspruch als unbegründet zurück. Die Familienkasse führte aus, der Kläger habe als vorübergehend entsandter Arbeitnehmer durchgehend dem polnischen Sozialversicherungssystem unterlegen, so dass für ihn gemäß Art. 13 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (konsolidierte Fassung, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - Nr. L 28 vom 30.01.1997, S. 1) -im Folgenden: VO Nr. 1408/71- ausschließlich die polnischen Rechtsvorschriften anzuwenden seien. Hierunter falle auch der Anspruch auf Kindergeld (Einspruchsentscheidung vom 05.05.2010).
Hiergegen richtet sich die Klage. Der Kläger trägt zu den näheren Umständen seiner Entsendung vor, seine Arbeitgeberin habe in „F” gen eine Niederlassung unterhalten, die für die Koordinierung des Einsatzes der polnischen Arbeitskräfte im Rahmen von Werkverträgen in Deutschland zuständig gewesen sei. Entsendungsunterlagen hat er trotz Aufforderung des Gerichts nicht vorgelegt. Auf Nachfrage des Gerichts, ob der Kläger oder seine Ehefrau in den Jahren 2005 und 2006 polnische Familienleistungen bezogen haben und – wenn ja – in welcher Höhe, hat der Kläger erklärt, die zuständige polnische Behörde habe sich geweigert, das Formular E 411 auszufüllen, weil der Stempel der Absendebehörde nicht erkennbar gewesen sei.
Der ordnungsmäßig geladene Klägervertreter ist der mündlichen Verhandlung ankündigungsgemäß ferngeblieben. Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
die Familienkasse unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 9.09.2009 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 5.05.2010 zu verpflichten, ihm von Januar 2005 bis Dezember 2006 für seine beiden Kinder deutsches Kindergeld in voller gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die beklagte Familienkasse ist im Verlauf des Klageverfahrens durch Organisationsakt für Kindergeldverfahren mit Bezug zu Polen zuständig geworden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten und die vom Gericht beigezogene Kindergeldakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist teilweise begründet.
1. Die grundsätzliche Versagung der Kindergeldfestsetzung g...