Leitsatz (redaktionell)
1. Art 11 Teil A Abs. 1 a der 6. EG-Richtlinie ist in der Form des § 10 Abs. 1 Satz 2 UStG zutreffend umgesetzt worden.
2. Erhält eine zutreffend umgesetzte EG-Richtlinie durch die Rechtsprechung des EuGH eine andere Auslegung als der bisher gängigen Auslegung nach nationalem Recht entsprach, dann führt allein dies nicht zur Durchbrechung der Bestandskraft von Steuerbescheiden.
3. Die richtlinienwidrige Auslegung von zutreffend umgesetzten Richtlinien verliert unmittelbar mit dem Ergehen des entsprechenden EuGH-Urteils ihre Wirkung. Von diesem Zeitpunkt an beginnen eventuelle Fristen für die Wiedereinsetzung zu laufen.
Normenkette
AO § 110; UStG § 10 Abs. 1; EWGRL 388/77 Art. 11 Teil A Abs. 1a
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob eine Anfechtung oder Korrektur der nach deutschen Verfahrensvorschriften bestandskräftigen und festsetzungsverjährten Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre 1983 bis 1986 nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaft möglich ist.
Die Klägerin betrieb in den Streitjahren die Aufstellung von Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit. Die Geräte waren entsprechend den geltenden Vorschriften so eingestellt, daß mindestens 60% der Einsätze als Gewinn ausgeschüttet wurden. Sie funktionierten in der Weise, daß das eingesetzte Geld in ein Röhrchen fiel, aus dem die anfallenden Gewinne gezahlt wurden. Sobald dieses Röhrchen gefüllt war, fielen weiter eingezahlte Beträge unmittelbar in eine Kasse, aus der keinerlei Gewinnauszahlungen erfolgten. Von der Klägerin wurde diese Kasse in regelmäßigen Abständen geleert. Von den Beträgen wurde zunächst das für die Gewinnauszahlung vorgesehene Röhrchen aufgefüllt, das restliche Geld verblieb bei der Klägerin.
Gemäß den in den Streitjahren geltenden Verwaltungsanweisungen (vgl Schreiben des BMF vom 21.06.78, StEK 1967 § 10 Nr.373; Abschn. 149 Abs. 9 UStR 1985) ermittelte die Klägerin die umsatzsteuerliche Bemessungsgrundlage in der Weise, daß der Kasseninhalt nach Herausrechnung der darin enthaltenen Umsatzsteuer mit 1,5 vervielfältigt wurde, und gab entsprechende Umsatzsteueranmeldungen ab. Unter Einbeziehung weiterer Besteuerungsgrundlagen wurde die Umsatzsteuer in den Streitjahren wie folgt festgesetzt (FG-A 11, USt-A 28ff, 36ff, 50 und 54ff) und gezahlt:
1983 |
… DM |
gemäß Steueranmeldung vom 08.10.85, |
1984 |
… DM |
gemäß Steueranmeldung vom 04.06.86, |
1985 |
… DM |
gemäß Bescheid vom 12.03.87 sowie |
1986 |
… DM |
gemäß Steueranmeldung vom 25.04.88. |
Der Bescheid für 1985 erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 Abs. 1 AO (USt-A 50).
Am 05.05.94 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Sache Rs. C 38/93, (BStBl II 94, 548f; nachfolgend „F”-Urteil), daß die bisherige Praxis bei der Umsatzbesteuerung von Gewinnspielautomaten nicht mit Art 11 Teil A der Sechsten EG-Richtlinie zur Umsatzsteuer (Sechste EG-Richtlinie) vereinbar sei. Der Besteuerung seien allein die Nettoeinsätze, also die eingeworfenen Einsätze abzüglich erfolgter Gewinnausschüttungen zu unterwerfen.
Klägerin in dem Verfahren, das zur Vorlage beim EuGH führte, war die F-Gesellschaft mbH, deren Komplementärin die Klägerin ist. (USt-A 123ff)
Daraufhin paßte der Bundesfinanzminister mit Schreiben vom 05.07.94 die Verwaltungsanweisungen an die Grundsätze des EuGH-Urteils an (vgl. BMF-Schreiben IV C 3-S7200-80/94, BStBl I 94, 465; veröffentlicht am 26.07.94).
Mit Schreiben vom 13.07.95 (Eingang beim Beklagten: 18.07.95) legte die Klägerin Einspruch gegen die Umsatzsteuerbescheide für die Streitjahre 1983 bis 1986 ein. Sie beantragte die Herabsetzung der Umsatzsteuer für die Streitjahre, und zwar entsprechend den Grundsätzen des „F”-Urteils Erstattung der Differenzbeträge, die sich aus der anzusetzenden niedrigeren Bemessungsgrundlage ergeben. Hilfsweise beantragte sie die Korrektur der Bescheide und stellte vorsorglich Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand (USt-SoA 1ff).
Zur Begründung der Durchbrechung der Bestandskraft bzw. der Festsetzungsverjährung verweist sie auf das Urteil des EuGH vom 25.07.91 in Sachen „E” (EuGH-Urteil vom 25.07.91 Rs. C 208/90, UR 93, 315, nachfolgend „E”-Urteil genannt), wonach nationale Fristen nicht laufen, solange eine EG-Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt ist. (USt-SoA 2ff)
Die hilfsweise gestellten Anträge auf Änderung der Bescheide, lehnte der Beklagte mit Schreiben vom 19.04.96 ab (USt-SoA 31f). Die Klägerin legte gegen den Ablehnungsbescheid am 21.05.96 Einspruch ein (USt-SoA 33).
Mit Einspruchsentscheidung vom 04.09.96 wies der Beklagten die Einsprüche vom 13.07.95 und vom 21.05.96 als unbegründet zurück (USt-SoA 56ff). Zur Begründung beruft sich der Beklagte auf die eingetretene Bestandskraft sowie Festsetzungsverjährung. Die Grundsätze des „E”-Urteils des EuGH seien nicht anwendbar.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 04.10.96 erhobenen Klage.
Sie ist der Ansicht, die angegriffenen Umsatzsteuerbescheide seien rechtswidrig, da die Grundsätze des „F”-Urteils auch auf die Steuerberechnungen fü...