rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch einer alleinerziehenden Mutter mit Wohnsitz in Deutschland und Beschäftigung in den Niederlanden
Leitsatz (redaktionell)
Ist die Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO (EWG) Nr. 1408/01 einschränkend dahingehend auszulegen, dass die Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates bezüglich der Gewährung von Kindergeld dann nicht ausgeschlossen sind, wenn der Beschäftigungsstaat eine entsprechende Sozialleistung nicht vorsieht?
Normenkette
EGV Art. 234; EG Art. 39
Tatbestand
I.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin deutsches Kindergeld für ihre Kinder C (geb. 12. April 1983) und T (geb. 19. Oktober 1985) zusteht.
Die Klägerin ist belgische Staatsangehörige und wohnt seit vielen Jahren in Deutschland. Sie ist alleinerziehende Mutter. Ihre Kinder C und T leben in ihrem Haushalt in Deutschland. Sie studieren derzeit in Deutschland. Ihre eigenen Einkünfte und Bezüge liegen unterhalb der Grenze, ab dem in Deutschland kein Kindergeld mehr gewährt wird.
Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Klägerin bei diesem Sachverhalt grundsätzlich Anspruch auf deutsches Kindergeld nach §§ 62 und 63 des Einkommensteuergesetzes – EStG – hat. Die entsprechenden Vorschriften lauten:
§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG:
„Für Kinder im Sinne des § 63 hat Anspruch auf Kindergeld nach diesem Gesetz, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.”
§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG:
„Als Kinder werden berücksichtigt: Kinder im Sinne des § 32 Abs. 1.”
§ 32 lautet in den hier interessierenden Punkten:
Abs. 1 Nr. 1: „Kinder sind im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandte Kinder.”
Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a: „Ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wird berücksichtigt, wenn es noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat und für einen Beruf ausgebildet wird.”
Die besonderen Regelungen, die für Ausländer gelten, finden auf die Klägerin als Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union keine Anwendung.
Die Beklagte gewährte der Klägerin aufgrund der vorgenannten Vorschriften zunächst Kindergeld für die beiden Kinder.
Am 01. September 2005 nahm die Klägerin eine nichtselbständige Beschäftigung in den Niederlanden auf.
Die Beklagte hob daraufhin mit Verfügung vom 18. Oktober 2005 die Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder ab Oktober 2005 auf.
Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 10. November 2005 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus:
Die Klägerin erfülle zwar die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von deutschem Kindergeld. Dieser Anspruch sei jedoch durch Art. 10 der Durchführungsverordnung (EWG) 574/72 ausgeschlossen. Nach den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen unterliege die Klägerin als Arbeitnehmerin nur noch den Vorschriften im Beschäftigungsstaat, d. h. im Streitfall den Niederlanden. Dass dieser Staat für Kinder ab Vollendung des 18. Lebensjahres kein Kindergeld mehr zahle, sei unerheblich.
Es ist derzeit nicht geklärt, ob die Klägerin arbeitstäglich oder nur an den Wochenenden oder anderen freien Tagen nach Deutschland zurückkehrt.
Mit der Klage trägt die Klägerin vor:
In der Ablehnung von Kindergeldleistungen werde eindeutig gegen das Recht auf Freizügigkeit verstoßen, da ihr eine entsprechende soziale Familienleistung verweigert werde.
Die Klägerin beantragt,
den Aufhebungsbescheid der Beklagten vom 18. Oktober 2005 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 10. November 2005 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Klägerin hätte bei Anwendung allein des deutsches Einkommensteuergesetzes, d. h. ohne Berücksichtung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen, Anspruch auf Kindergeld für ihre beiden Kinder C und T. Dieser Anspruch wäre nicht durch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift wird Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt, für das Kindergeld im Ausland zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre. Die Klägerin hat in den Niederlanden aufgrund des Alters der Kinder keinen Anspruch auf Kindergeld oder vergleichbare Sozialleistungen.
2. Der danach grundsätzlich bestehende Kindergeldanspruch der Klägerin wird im Streitfall durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften ausgeschlossen.
a) Nach Artikel 13 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige so wie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu und abwandern (im Folgenden: VO (EWG) 1408/71), unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates. Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats als Arbeitnehmerin beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates (d. h. des Beschäftigungsstaates), und zwar auch dann, wenn sie...