Entscheidungsstichwort (Thema)
Ablehnung des Erlasses einer Kindergeldrückforderung durch eine unzuständige Behörde
Leitsatz (redaktionell)
1. Für den Bereich „Inkasso” ist in Bezug auf Kindergeld die örtliche Familienkasse sachlich zuständig.
2. Wenn die Familienkasse, die für die Entscheidung über einen Erlassantrag zuständig ist, als zuständige Behörde die Einspruchsentscheidung erlässt, führt dies nicht zur Heilung der sachlichen Unzuständigkeit bei Erlass des Ablehnungsbescheides.
3. Die Vorschrift des § 127 AO gilt nicht bei Verletzung der sachlichen Zuständigkeit.
4. Die ersetzende Funktion der Einspruchsentscheidung bei einer Ermessensentscheidung kann sich nur auf die in der ursprünglichen Entscheidung fehlende oder fehlerhafte Ermessensausübung beziehen, nicht aber auf andere Verfahrensfehler.
Normenkette
AO § 126 Abs. 2, §§ 127, 227, 367 Abs. 2, § 126 Abs. 1
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit einer Einspruchsentscheidung, mit der der Einspruch gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erlass einer Forderung der Beklagten zurückgewiesen wurde.
Die Forderung der Beklagten resultiert aus einem bestandskräftigen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 13.06.2013 für den Zeitraum Mai 2011 bis November 2012 für das Kind A i.H.v. 3.496 €.
Mit Bescheid vom 14.04.2010 war das Kindergeld für den in Ausbildung befindlichen Sohn A ab April 2010 festgesetzt und bei den Hartz IV-Leistungen, die die in Bedarfsgemeinschaft mit ihrem Sohn lebende Klägerin aufstockend zu ihrer Rente erhielt, als Einkommen angerechnet worden.
Im Hinblick auf das Ende der Ausbildung wurde die Klägerin im November 2012 angeschrieben und um entsprechende Nachweise gebeten, woraufhin sie der Beklagten mitteilte, dass A seit dem 01.07.2011 eine Vollzeittätigkeit aufgenommen habe. Die Beklagte, die hiervon bislang keine Kenntnis hatte, hob die Kindergeldfestsetzung daraufhin mit Bescheid vom 13.06.2013 auf und forderte das überzahlte Kindergeld i.H.v. 3.496 € zurück. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. In der Folge traf die Klägerin mit der Agentur für Arbeit B, Inkassoservice Familienkasse (Inkassoservice), eine Ratenzahlungsvereinbarung über die Zahlung von monatlich zehn Euro, die sie bis zum Widerruf dieser Vereinbarung und gleichzeitiger Ablehnung der Stundung durch den Inkassoservice im Dezember 2019 erfüllte. Nach längerem Schriftwechsel mit dem Inkassoservice und Zurückweisung des Einspruchs gegen die Ablehnung der Stundung mit bestandskräftiger Einspruchsentscheidung vom 11.02.2020 durch die Familienkasse B stellte die Klägerin mit Schreiben vom 21.08.2020 hinsichtlich der verbliebenen Forderung i.H.v. 2.833,50 € (2.536 € Rückforderung und 290,50 € Säumniszuschläge) einen Billigkeitsantrag nach § 227 Abs. 1 AO.
Diesen Antrag lehnte der Inkassoservice nach Prüfung der Anrechnung der Kindergeldbeträge durch den Sozialleistungsträger mit Schreiben vom 30.07.2021 überwiegend ab. Eine Teilforderung von 154 € wurde aufgrund sachlicher Unbilligkeit erlassen, weil die Überzahlung des Kindergeldes für den ersten Monat auch bei rechtzeitiger Mitteilung des Abbruchs der Ausbildung nicht vermeidbar gewesen wäre. Im Übrigen fehle es an der sachlichen Unbilligkeit der Forderung, weil die Klägerin ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei, indem sie den Abbruch der Berufsausbildung nicht mitgeteilt habe. Ferner fehle es auch an der persönlichen Unbilligkeit, da – bedingt durch die Pfändungsschutzvorschriften – die wirtschaftliche Existenz der Klägerin nicht gefährdet sei.
Der hiergegen geführte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 durch die beklagte Familienkasse C als unbegründet zurückgewiesen. Über die erlassenen 154 € hinaus fehle es an der sachlichen Unbilligkeit der Einziehung der Forderung, weil die Klägerin ihre Mitwirkungspflicht nach § 68 Abs. 1 EStG verletzt habe. Die Anrechnung des Kindergeldes als Einkommen durch den Sozialleistungsträger allein reiche nicht aus, um eine sachliche Unbilligkeit der Einziehung zu begründen. Auch eine persönliche Unbilligkeit liege nicht vor. Diese setze die Erlassbedürftigkeit und die Erlasswürdigkeit voraus. Die Erlassbedürftigkeit sei im Hinblick auf die Pfändungsschutzvorschriften zu verneinen. Die Erlasswürdigkeit sei gegeben, wenn der Schuldner die mangelnde Leistungsfähigkeit nicht selbst herbeigeführt und durch sein Verhalten nicht in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen habe. Die Einspruchsführerin habe die Rückforderung durch ihr Versäumnis, die notwendigen Unterlagen im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht vorzulegen, selbst herbeigeführt. Soweit die Einspruchsführerin vortrage, dass ihr Ratenzahlung eingeräumt worden sei und diese nunmehr weitergeführt werden müsse, könne sie damit nicht durchdringen, da eine Ratenzahlung im Steuerrecht nicht vorgesehen sei. Die Ratenzahlungsvereinbarung sei ohnehin befristet gewesen. Säumniszusc...