Entscheidungsstichwort (Thema)

Umfang der materiellen Bestandskraft eines Steuerbescheides

 

Leitsatz (redaktionell)

1) Der Umfang der materiellen Bestandskraft erstreckt sich auf die nach außen getroffene Regelung – den Ausspruch, Entscheidungssatz, Verfügungssatz oder das Thema eines Verwaltungsaktes.

2) Die Begründung eines Verwaltungsaktes erwächst nicht in materielle Bestandskraft.

3) Zur Bestimmung des Umfangs der materiellen Bestandskraft ist die im Verwaltungsakt verbindlich mit Wirkung nach außen getroffene Regelung über den bloßen Wortlaut hinaus gegebenenfalls entsprechend §§ 133, 157 BGB auszulegen.

4) Entscheidend ist, wie der Betroffene nach den ihm bekannten Umständen – nach seinem objektiven Verständnishorizont – den materiellen Gehalt der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben verstehen konnte.

 

Normenkette

EStG § 43b; AO § 118; BGB §§ 133, 157; EStG § 50d

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin die beantragte Kapitalertragsteuererstattung zusteht oder ob dem von ihr geltend gemachten Anspruch die materielle Bestandskraft des bereits ergangenen (Teil-)Erstattungsbescheids entgegensteht.

Die Klägerin ist eine am … gegründete, in den Niederlanden ansässige juristische Person in der Rechtsform einer besloten vennootschap (kurz B.V.). Unter dem 26. März 2015 wurden ihr von ihrer Muttergesellschaft, der A Corporation of B (USA), 100 % der Anteile an der A Deutschland GmbH übertragen.

Am 30. März 2015 erhielt die Klägerin von der A Deutschland GmbH eine Ausschüttung i.H.v. … €. Auf die Dividende wurde Kapitalertragsteuer i.H.v. insgesamt … € einbehalten und abgeführt.

Mit am 28. August 2018 beim Beklagten eingegangenem Freistellungs- und Erstattungsantrag begehrte die Klägerin hinsichtlich dieser Ausschüttung die Erstattung von Kapitalertragsteuer in Höhe von … €. Anspruchsgrundlage sollte nach ihren Ausführungen im Übersendungsschreiben vom 3. Juli 2018 sowie im beigefügten Antrag vom 3. Juli 2018 § 43b EStG sein (siehe Bl. 119 ff., 113 ff. eFG-Akte).

Bereits zuvor, mit Eingang am 15. Oktober 2015, hatte die Klägerin einen Freistellungs- und Erstattungsantrag hinsichtlich der Dividendenzahlung vom 30. März 2015 unter Berufung auf § 50d Abs. 1 EStG i.V.m. Art. 13 Abs. 4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete vom 16. Juni 1959 (DBA Niederlande) über einen Betrag i.H.v. … € gestellt. Im damaligen Übersendungsschreiben vom 13. Oktober 2015 hatte die Klägerin ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich um einen Antrag auf teilweise Erstattung auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 4 DBA Niederlande handele und ein weitergehender Antrag auf der Grundlage von § 43b Abs. 1 und 2 EStG (Mutter-Tochter-Richtlinie) gestellt werden würde, wenn die in dieser Vorschrift vorausgesetzte 12-monatige Haltedauer erfüllt sei. Diesem am 15. Oktober 2015 eingegangenen Antrag entsprach der Beklagte mit Freistellungsbescheid vom 25. August 2016 vollständig und erstattete … € (Kapitalertragsteuer i.H.v. … € und Solidaritätszuschlag i.H.v. … €). Dieser Bescheid war überschrieben mit „Bescheid über die Freistellung und Erstattung von deutschen Abzugsteuern vom Kapitalertrag nach § 44a Abs. 9 EStG bzw. nach § 50d Abs. 1 EStG i.V.m. § 43b EStG bzw. dem DBA Bundesrepublik Deutschland-Niederlande aufgrund Ihres Antrags, eingegangen am 15.10.2015, für den im Festsetzungsteil aufgeführten Erstattungsberechtigten” (Bescheid vom 25. August 2016, NL …, siehe Bl. 109 ff. eFG-Akte). Im Festsetzungsteil dieses Bescheids waren Erträge i.H.v. … €, eine beantragte Erstattung i.H.v. … € sowie eine festgesetzte Erstattung i.H.v. insgesamt … € angegeben.

Den unter dem 28. August 2018 eingegangenen Antrag auf eine weitere Kapitalertragsteuererstattung i.H.v. … € lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 22. März 2019 ab. Für den betreffenden Zufluss sei bereits eine Entlastung mit Bescheid vom 25. August 2016 unter der Registriernummer NL … vorgenommen worden. Es sei auf 10 % Reststeuersatz entlastet worden, da die Mindesthaltedauer nicht erfüllt gewesen sei. Aufgrund der Bestandskraft des Bescheids vom 25. August 2016 zu NL … sei eine weitere Entlastung nicht möglich (siehe Bl. 13 ff. eFG-Akte).

Den hiergegen eingelegten Einspruch wies der Beklagte mit Entscheidung vom 16. November 2020 zurück. Der Freistellungsbescheid vom 25. August 2016, bei dem es sich um einen Steuerbescheid gemäß § 155 Abs. 1 Satz 3 AO handele, sodass die Vorschriften über die Steuerfestsetzung sowie über die Bekanntgabe von steuerlichen Verwaltungsakten anzuwenden seien (§§ 122, 155 ff. AO), sei bestandskräftig geworden. Es könne daher nicht mittels eines zweiten Erstattungsantrags hinsichtlich derselben Erträge eine weitere Freistellung erreicht werden. Dies gelte auch dann, wenn mit dem zweiten Antrag erstmals ...

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