Entscheidungsstichwort (Thema)
Inhaftungnahme als Verfügungsberechtigter gem. § 35 AO 1977. Begründung des Auswahlermessens bei Nichtinanspruchnahme eines Geschäftsführers gegenüber der Inhaftungnahme eines Verfügungsberechtigten. Haftungsbescheid wegen Umsatzsteuer
Leitsatz (redaktionell)
1. Den haftungsbegründenden Tatbestand eines Verfügungsberechtigten i.S. des § 69 i.V.m. § 35 AO 1977 erfüllt, wer für eine GmbH als Steuerschuldnerin Umsatzsteuervoranmeldungen unterschreibt sowie Kontenvollmachten für die Betriebsmittelkonten innehat und sie gebraucht.
2. Nimmt das FA statt des alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführers einer GmbH den als Verfügungsberechtigten anzusehenden Geschäftsführer der Muttergesellschaft als Haftenden i.S. des § 69 AO 1977 in Anspruch, ist zu begründen, weshalb den Geschäftsführer ein geringeres Verschulden trifft als den Verfügungsberechtigten.
Normenkette
AO 1977 §§ 69, 35, 5, 191 Abs. 1; FGO § 102; UStG § 18 Abs. 1 S. 1
Tenor
Der Haftungsbescheid und die Zahlungsaufforderung vom 09. April 1997 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15. März 2002 werden aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 100 v. H. abwenden, wenn nicht der Kläger Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Der Streitwert beträgt 53.177,26 DM (= 27.189,10 e).
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Inhaftungnahme des Klägers als Verfügungsberechtigter i. S. von § 35 Abgabenordnung (AO) streitig.
Die L. GmbH erwarb im Jahr 1993 von der Treuhandanstalt die aus dem VEB … umgewandelte S. GmbH (= S.). Der Kläger war vom 21. Januar 1994 bis zum 14.September 1995 Geschäftsführer der S.. Die S. errichtete als alleinige Gesellschafterin mit dem Gesellschaftsvertrag von 21. Januar 1994 die B… GmbH (= B.). Herr N. W. wurde zum Geschäftsführer der B. bestellt. Am 14. Dezember 1994 wurde Herr M. G. zum weiteren Geschäftsführer der B. bestellt. Beide Geschäftsführer waren alleinvertretungsbefugt. Die Bestellung erfolgte durch den Kläger als alleinvertretungsbefugten Geschäftsführer der Gesellschafterin S.. Am 16. August 1995 beschlossen die Geschäftsführer der S. die Liquidation der B.. Am 14. November 1995 wurde die Abberufung der Geschäftsführer W. und G. sowie die Bestellung von Herrn S. N. zum Liquidator der B. in das Handelsregister eingetragen.
Am 14. September 1995 wurden die Geschäftsführer der S. (der Kläger und Herr U. G.) abberufen. Es wurde die Auflösung der S. beschlossen und Herr N. R. zum Liquidator bestellt.
Die B. unterhielt seit dem Jahr 1994 je ein Betriebsmittelkonto bei der Dresdner Bank W. (Kontonummer …) und bei der Raiffeisenbank W. (Kontonummer …). Bei beiden Konten waren nur der Geschäftsführer der B., Herr N. W., und der Geschäftsführer der S., der Kläger, verfügungsbefugt. Die B. hatte bei der Raiffeisenbank W. keinen Kreditrahmen und das Konto wurde am 18. August 1995 aufgelöst.
Die B. erhielt für die Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen eine Dauerfristverlängerung. Sie reichte nach der nur aus dem Überwachungsbogen ersichtlichen Anmeldung vom 13. Februar 1995 eine am 27. März 1995 vom Kläger unterschriebene berichtigte Umsatzsteuervoranmeldung für den Monat Dezember 1994 am 10. April 1995 beim Beklagten ein. Darin hatte die B. eine verbleibende Vorauszahlung von 79.591,18 DM errechnet. Dieser Betrag wurde anlässlich einer im Juni 1995 durchgeführten Umsatzsteuersonderprüfung bestätigt.
Der festgesetzte Betrag wurde nicht an den Beklagten bezahlt.
Am 18. September 1995 beantragte die B. beim Amtsgericht die Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens über ihr Vermögen. Am selben Tag ordnete das Amtsgericht die Sequestration an. Am 02. Oktober 1995 beschloss das Amtsgericht die Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens über das Vermögen der B..
Nach den Feststellungen der Gutachterin im Gesamtvollstreckungsverfahren der B. betrieb diese die Wartung technischer Anlagen sowie Baumaßnahmen, insbesondere Instandsetzung und Renovierung alter Bausubstanz. Die B. habe fast ausschließlich Bauaufträge für ihre Muttergesellschaft, die S., ausgeführt. Fremdaufträge seien so gut wie nie angenommen worden. Das Unternehmen sei in bzw. auf von der S. verpachteten Werkhallen und Außenflächen betrieben worden. Rückstände aus dem monatlichen Pachtzins von 10.000,00 DM bestünden nicht. Das Firmenkonto bei der Raiffeisenbank W. habe sich zum 18. August 1995 mit 458.875,94 DM im Soll befunden. Am selben Tag habe die Muttergesellschaft (S.) mit einer Überweisung von 466.875,94 DM das Konto ausgeglichen.
Der Beklagte führte mit seinem Schreiben vom 27. September 1995 beim ehemaligen Geschäftsführer W., mit dem Schreiben vom 14. März 1996 beim Kläger, mit dem Schreiben vom 10. September 1996 beim Geschäftsführer der L. GmbH, Herrn K. ...