Entscheidungsstichwort (Thema)

Prüfungskriterien für den Ausschluss des Kindergeldanspruchs für in Polen lebende Kinder

 

Leitsatz (redaktionell)

1. § 65 Abs.1 S. 1 Nr. 2 EStG regelt die Anspruchskonkurrenz zwischen kindbezogenen innerstaatlichen Leistungen und vergleichbaren kindbezogenen ausländischen Leistungen, sofern nicht spezielles europäisches oder Abkommensrecht gilt. Die Gewährung von deutschem Kindergeld für in Polen lebende Kinder ist ausgehend von den Regelungen des Einkommensteuergesetzes zu prüfen, wobei zu klären ist, ob die Ausschlussklausel des § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG von speziellem europäischem Recht verdrängt wird. Das ist nicht der Fall, wenn der Kläger nicht in den persönlichen Anwendungsbereich der streitigen europäischen Rechtsvorschriften fällt.

2. Das deutsche Kindergeld fällt in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71.

3. Für die Frage, ob eine im Ausland für Kinder gezahlte Leistung dem deutschen Kindergeld i. S. d. § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG vergleichbar ist, ist entscheidend, ob die zu vergleichende Leistung wirtschaftlich die gleiche Zielrichtung verfolgt wie das Kindergeld; dies ist wegen der deutlich unterschiedlichen Höhe des Kindergelds in Deutschland bzw. Polen auch hinsichtlich der unterschiedlichen Lebenshaltungs-, Schul- und Berufsausbildungskosten zu prüfen.

4. Bei ganz geringfügigen ausländischen Leistungen kann die funktionelle Vergleichbarkeit entfallen. Daher ist ggf. auch zu prüfen, ob ausnahmsweise trotz des Bezugs polnischen Kindergelds die Gewährung deutschen Kindergelds nicht nach § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen ist, etwa weil das polnische Kindergeld nicht zur Sicherstellung des Existenzminimums des Kindes ausreicht oder – da als Familiengeld und nicht als Kindergeld bezeichnet – eine andere Zielrichtung verfolgt.

 

Normenkette

EStG § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EWGV 1408/71 Art. 12 Abs. 2, Art. 76; EWGV 574/72 Art. 7 Abs. 1

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 18.12.2013; Aktenzeichen III R 4/11)

BFH (Urteil vom 18.12.2013; Aktenzeichen III R 4/11)

 

Tenor

1. Der Bescheid vom 21. Dezember 2006 und die Einspruchsentscheidung vom 25. Oktober 2007 werden insoweit aufgehoben, als die Gewährung von Kindergeld ab dem 01. April 2006 über einen Monatsbetrag von 320,50 Euro hinaus abgelehnt wurde. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

 

Tatbestand

I.

Streitig ist, ob der Kläger für seine vier Kinder S., D., P. und T. zum Bezug von Kindergeld in voller Höhe berechtigt ist. Die beklagte Familienkasse gewährte ihm lediglich das hälftige Kindergeld und begründete dies damit, dass der Kläger zwar einen Wohnsitz im Inland habe, aber für seine in Polen bei der Mutter befindlichen Kinder dort bis zum August 2006 Familienbeihilfe bezogen hat bzw. für den Zeitraum danach beantragen hätte können.

Der Kläger trägt vor, die bis August 2006 in Polen gewährte Familienbeihilfe von 13 bzw. 18 Euro stelle keine dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistung dar und könne deshalb nicht zu einem Ausschluss des Kindergeldbezugs nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) führen. Eine Kürzung oder ein Wegfall des deutschen Kindergelds ergebe sich auch nicht aus europarechtlichen Vorschriften. Der Kläger sei nicht als Selbständiger in einer alle Erwerbstätigen umfassenden Altersversicherung versicherungs- oder beitragspflichtig und falle daher nicht unter den Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71; zudem werde Kindergeld in Deutschland nicht als Sozialleistung gewährt, sodass der Anwendungsbereich der Verordnung auch deshalb nicht eröffnet sei. Entgegen der Auffassung der Beklagten liege auch kein Kollisionsfall nach Art. 76 der Verordnung vor, da aufgrund der Höhe des Einkommens des Klägers kein Anspruch auf Familienbeihilfe in Polen bestehe. Dem Kläger sei aufgrund seines Wohnsitzes im Inland, der auch zu seiner unbeschränkten Einkommensteuerpflicht führe, Kindergeld nach § 62 EStG in voller Höhe zu gewähren. Aufgrund der Höhe seiner Einkünfte in Deutschland (zu versteuerndes Einkommen 2004: 6.958 Euro, 2005 14.153 Euro) habe seine Frau Familienleistungen in Polen ab September 2006 nicht mehr beantragt.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 21. Dezember 2006 und die Einspruchsentscheidung vom 25. Oktober 2007 insoweit aufzuheben, als die Gewährung von Kindergeld ab dem 01. April 2006 hinaus abgelehnt wurde, und die Beklagte zu verpflichten, ihm Kindergeld in voller Höhe für seine vier Kinder zu gewähren.

Die Familienkasse (Beklagte) beantragt,

die Klage abzuweisen.

Würde man den Anspruch des Klägers auf Kindergeld wegen der in Polen gezahlten Familienbeihilfe gänzlic...

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