Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtigkeit von Bescheiden. willkürliche Schätzung von Besteuerungsgrundlagen. Strafschätzungen sind nicht zulässig. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn Umschlag auf dem Weg zur Post vom Sitz des Autos rutscht
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch der nichtige Bescheid kann mit der Anfechtungsklage angefochten werden.
2. Die streitigen Einkommensteuerbescheide für 2007 leiden an einem besonders schwerwiegenden Fehler, der bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen wurden im Streitfall in einem so hohen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, die ergangenen Einkommensteuer-bescheide 2007 als verbindlich anzuerkennen. Die Schätzung weicht in krassem Umfang von den tatsächlichen Gegebenheiten ab und verlässt den zulässigen Schätzungsrahmen in einem dermaßen eklatanten Umfang, dass sich schon aus diesem Grund der Verdacht einer unzulässigen Strafschätzung aufdrängt. Im Streitfall liegen keine geeignete Anhaltspunkte für die Schätzung von Kapitaleinkünften und von Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit (in dermaßen eklatanter Höhe) vor. Zum Zeitpunkt der Schätzung blieben feststehende Tatsachen entgegen der gesetzlichen Regelung in § 162 Abs. 1 AO unberücksichtigt.
3. Der Steuerpflichtige kann, wenn keine Anhaltspunkte für mögliche Verzögerungen vorliegen, davon ausgehen, dass werktags im Bundesgebiet aufgegebene Sendungen am folgenden Werktag im Bundesgebiet ausgeliefert werden. Dass der Briefumschlag bei der Autofahrt vom Sitz zur Beifahrertür hin rutschen konnte, gehört zu den Umständen, die nie mit hundertprozentiger Sicherheit zu vermeiden sind. Das Verlangen des FA, die Briefe vor dem Einwurf in den Briefkasten jedes Mal abzuzählen, ist überzogen. Auch in der Steuerverwaltung existiert kein Kontrollsystem für die gesicherte vollständige Postaufgabe bei der Post oder beim Briefkasten. Nur eigenes Verschulden des Prozessbevollmächtigten, nicht aber Verschulden des ordnungsgemäß ausgewählten, instruierten und überwachten Büropersonals werden dem Verfahrensbeteiligten gemäß § 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO zugerechnet.
Normenkette
AO §§ 88, 110, 125 Abs. 1, §§ 162, 355; FGO § 155; ZPO § 85 Abs. 2
Tenor
1. Die Einkommensteuerbescheide 2007 vom 4. August 2009 und vom 7. Juli 2010 sowie die Einspruchsentscheidung vom 6. September 2011 werden aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
I.
Die Klägerin wird vom Beklagten (dem Finanzamt) zur Einkommensteuer veranlagt. Sie wohnte im Streitjahr in der x-straße in M.
In den Jahren 2004 bis 2006 erzielte die Klägerin als Miterbin lediglich Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus dem teilweise vermieteten Objekt in der x-straße in M, das am 26. Mai 2008 für ca. 3 Mio. EUR durch Übertragungen der Erbteile veräußert wurde.
Die Einkommensteuerbescheide 2004 bis 2006 (2004 vom 29. Juni 2007, 2005 vom 25. Oktober 2007 sowie 2006 vom 27. September 2007 und vom 19. Juni 2008 mit einer festgesetztem Einkommensteuer für 2006 von 22.457 EUR) für die Klägerin wurden der Prozessbevollmächtigten bekannt gegeben.
Die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung stammten aus der seit 2003 bestehenden Erbengemeinschaft P./N. und wurden auch im Streitjahr 2007 mit Bescheid vom 10. Juli 2009 vom Lagefinanzamt einheitlich und gesondert festgestellt. Der Feststellungsbescheid 2007 beinhaltete daneben noch Einkünfte aus Kapitalvermögen, die in Höhe von 5 EUR der Klägerin zugerechnet wurden.
Da die Klägerin für das Streitjahr 2007 zunächst keine Einkommensteuererklärung abgegeben hatte, schätzte das Finanzamt im Bescheid vom 4. August 2009 die Besteuerungsgrundlagen. Neben den bereits vom Lagefinanzamt mitgeteilten Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in Höhe von 35.265 EUR berücksichtigte das Finanzamt Einkünfte aus Kapitalvermögen in Höhe von 19.204 EUR sowie aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 20.080 EUR und setzte die Einkommensteuer 2007 auf 22.751 EUR fest. Eine Erläuterung, warum Einkünfte aus Kapitalvermögen und aus nichtselbständiger Arbeit angesetzt wurden und wie sich diese ermitteln, findet sich im Bescheid nicht. Mit Bescheid vom 7. Juli 2010 hob das Finanzamt den Vorbehalt der Nachprüfung auf.
Dagegen legte die Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 11. August 2010 Einspruch ein. Der Einspruch ging beim Finanzamt erst am 16. August 2010 (Eingangsstempel) ein.
Mit Schreiben vom 1. September 2010 wies das Finanzamt die Klägerin darauf hin, dass die Einspruchsfrist am 12. August 2010 (Donnerstag) abgelaufen sei und der Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 2007 vom 7. Juli 2010 verspätet eingegangen sei. Die ...