Entscheidungsstichwort (Thema)
Schätzung von Zinseinkünften, Beachtung der strafprozessualen Grundsätze "in dubio pro reo" und "nemo tenetur se ipsum accusare" im Besteuerungsverfahren
Leitsatz (redaktionell)
1) Kommt der Steuerpflichtige seinen durch das strafrechtliche Ermittlungsverfahren nicht suspendierten steuerverfahrensrechtlichen Mitwirkungspflichten nicht nach und kann die Finanzbehörde daher den steuerrelevanten Sachverhalt nicht aufklären, ist sie zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 162 Abs. 1 AO befugt. Im Rahmen einer solchen Schätzung ist die Finanzbehörde befugt, sich an der oberen Grenze des für den Einzelfall zu beachtenden Schätzungsrahmens auszurichten und den maximal erzielbaren Zinssatz bei der zugrunde zu legenden Kapitalanlage anzusetzen.
2) Die subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung sind unter Berücksichtigung des Grundsatzes "in dubio pro reo" zu prüfen, wobei sich jedoch das für die Annahme einer Steuerhinterziehung erforderliche Beweismaß reduziert, wenn die vollständige Aufklärung des Sachverhalts aufgrund fehlender Mitwirkung des Steuerpflichtigen scheitert.
Normenkette
AO 1977 § 90 Abs. 2, § 169 Abs. 2 S. 2, § 370 Abs. 1, § 393 Abs. 1, § 90 Abs. 1
Tatbestand
Streitig ist, ob der Beklagte (Bekl.) bei der Festsetzung der Einkommensteuer der Kläger (Kl.) für die Jahre 1992, 1993, 1995 und 1999 (Streitjahre) zu Recht Einkünfte aus Kapitalvermögen geschätzt hat.
Die Kl. gaben in den beim Bekl. am 13.10.1993, 24.02.1994, 14.04.1996 und 24.03.2000 eingegangenen Einkommensteuererklärungen für die Jahre 1992, 1993, 1995 und 1999 keine Einnahmen aus Kapitalvermögen an.
Der Bekl. setzte die Einkommensteuer der Kl. für die Streitjahre mit Bescheiden vom 18.01.1994, 16.05.1994, 31.05.1996 und 02.05.2000 fest. Dabei legte er die Angaben der Kl. in den Einkommensteuererklärungen zugrunde.
Am 20.11.2001 leitete das Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung C gegen die Kl. steuerstrafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Hinterziehung von Einkommensteuer 1996 – 2000 ein. Im Rahmen dieser Verfahren erfuhr der Bekl. von folgendem Sachverhalt:
Die Klägerin (Klin.) erhielt am 25.10.1995 von einer türkischen Bank eine Überweisung von 82.897 DM. Diesen Betrag hatte sie zuvor in verzinslichen Kreditbriefen der türkischen Nationalbank angelegt. Am 26.10.1995 transferierte die Klin. über eine türkische Bank einen Betrag von 160.000 DM, um hiervon Kreditbriefe der türkischen Nationalbank mit einer jährlichen Verzinsung von bis zu 13 % zu kaufen. Zu diesem Zweck überwiesen sie und ihr damals 21-jähriger Sohn L am 15.03.1996 einen weiteren Betrag von 20.000 DM in die Türkei.
Der Bekl. setzte nach vorheriger Anhörung die Einkommensteuer der Kl. mit Bescheiden vom 30.01.2003 erhöht fest. Dabei legte er folgende Einkünfte aus Kapitalvermögen zugrunde:
Jahr |
Einnahmen |
Werbungskosten-Pauschbetrag |
Sparer-Freibetrag |
Einkünfte |
1992 |
13.000 DM |
200 DM |
1.200 DM |
11.600 DM |
1993 |
14.000 DM |
200 DM |
12.000 DM |
1.800 DM |
1995 |
15.000 DM |
200 DM |
12.000 DM |
2.800 DM |
1999 |
57.600 DM |
200 DM |
12.000 DM |
45.400 DM |
Hiergegen legten die Kl. am 14.02.2003 Einsprüche ein, die der Bekl. mit Einspruchsentscheidung vom 24.06.2003 als unbegründet zurückwies.
Die Kl. haben am 25.07.2003 Klage erhoben.
Sie behaupten, sie hätten in den Streitjahren keine Einkünfte aus Kapitalvermögen in der geschätzten Höhe erzielt. Sie sind der Auffassung, sie seien im Besteuerungsverfahren nicht zur Mitwirkung verpflichtet. Auch in diesem Verfahren stünde ihnen das im Strafprozessrecht geltende Recht zu, sich nicht selbst belasten zu müssen.
Im Übrigen habe der Bekl. die Änderungsbescheide zur Einkommensteuer 1992 bis 1995 erst nach Ablauf der Verjährungsfrist erlassen. Im Streitfall gelte nicht die zehnjährige Festsetzungsfrist, weil sie – die Kl. – nicht gewusst hätten, dass sie ausländische Zinseinnahmen in Deutschland versteuern müssten.
Der Berichterstatter des Senats hat die Kl. vergeblich mit Verfügung vom 26.11.2004 aufgefordert, eine Aufstellung über die in den Streitjahren erzielten Einnahmen und Werbungskosten bei den Einkünften aus Kapitalvermögen vorzulegen. Hierfür hat er den Kl. eine Frist nach § 79 b der Finanzgerichtsordnung (FGO) bis zum 10.01.2005 gesetzt.
Die Kl. beantragen,
die geänderten Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1992, 1993, 1995 und 1999 aufzuheben.
Der Bekl. beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist nicht begründet.
Der Beklagte hat in nicht zu beanstandender Weise im Rahmen einer Schätzung nach § 162 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) angenommen, dass die Kl. bisher noch nicht erklärte Zinseinnahmen erzielt haben.
Nach § 162 Abs. 1 Satz 1 AO hat die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann. Sie hat insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichende Aufklärungen zu...