Entscheidungsstichwort (Thema)

Ablehnung des Erlasses einer Kindergeldrückforderung durch eine unzuständige Behörde

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde ist Beklagte i.S.d. § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO.

2. Für den Bereich „Inkasso” ist in Bezug auf Kindergeld die örtliche Familienkasse sachlich zuständig.

3. Wenn die Familienkasse, die für die Entscheidung über einen Erlassantrag zuständig ist, als zuständige Behörde die Einspruchsentscheidung erlässt, führt dies nicht zur Heilung der sachlichen Unzuständigkeit bei Erlass des Ablehnungsbescheides.

4. Die Vorschrift des § 127 AO gilt nicht bei Verletzung der sachlichen Zuständigkeit.

 

Normenkette

BGB §§ 133, 157; AO §§ 16, 126-127; FVG § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 11 Sätze 1, 4; FGO § 63 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1; GG Art. 19 Abs. 4

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 19.01.2023; Aktenzeichen III R 3/22)

 

Tatbestand

Streitig ist der Erlass einer Kindergeldrückforderung.

Die Klägerin ist leibliche Mutter der am 00.06.1987 geborenen Tochter O, die zu 100 % schwerbehindert ist.

Mit Bescheid vom 24.08.2016 hob die Familienkasse NRW die Kindergeldfestsetzung für O für den Zeitraum Januar 2013 bis Juni 2016 auf und forderte den für diesen Zeitraum gezahlten Kindergeldbetrag i. H. v. 7.812,00 € zurück. Zur Begründung führte sie an, ein Anspruch auf Kindergeld bestünde gem. § 32 Abs. 4 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht, da die Tochter in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten.

Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren von der Klägerin erhobene Klage (1 K 3453/16) wurde mit rechtskräftigem Urteil vom 29.05.2017 abgewiesen.

Die Vollstreckung des Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 24.08.2016 übernahm die Agentur für Arbeit Inkasso-Service Familienkasse (Beklagte).

Mit Schreiben vom 03.05.2018 beantragte die Klägerin sinngemäß, den Erlass der Kindergeldrückforderungen i.H.v. 5.476 € (4.150 € Kindergeld und 1.326 € Säumniszuschläge). Zur Begründung führte sie an, der Kindergeldanspruch hätte materiell-rechtlich bestanden, da die von ihr geleisteten und nach ärztlichem Attest auch erforderlichen Betreuungsleistungen bei der Berechnung des behinderungsbedingten Mehrbedarfes hätten berücksichtigt werden müssen.

Die Beklagte lehnte den Erlassantrag mit Bescheid vom 27.07.2018 wegen fehlender Erlasswürdigkeit ab. Die Klägerin habe ihre Mitteilungspflichten verletzt und dadurch die Rückforderung verursacht.

Gegen diese Ablehnung legte die Klägerin Einspruch ein, den die Familienkasse NRW mit Einspruchsentscheidung vom 12.09.2018 als unbegründet zurückwies. Auch sie stützte ihre Entscheidung auf die Verletzung der Mitwirkungspflichten der Klägerin. Darüber hinaus habe sie auch keine ausreichenden Angaben zu ihren wirtschaftlichen Verhältnissen gemacht, so dass eine Erlassbedürftigkeit nicht habe geprüft werden können.

Wegen der Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung der Familienkasse NRW Bezug vom 12.09.2018 genommen.

Mit ihrer am 12.10.2018 bei Gericht eingegangenen Klage wendet sich die Klägerin gegen die Ablehnung des Erlassantrages.

Zur Begründung trägt sie vor, die Rückforderung sei nicht durch Versäumnisse ihrerseits ausgelöst worden. Vielmehr beruhe die Rückforderung auf einem Irrtum der Familienkasse. Darüber hinaus habe ihr, der Klägerin, materiell-rechtlich Kindergeld zugestanden. Dies ergebe sich bereits daraus, dass nunmehr Kindergeld gewährt werde. Schließlich fehle es dahingehend an einer hinreichenden Sachverhaltsaufklärung durch die Beklagte, dass bei den vorliegenden besonderen Voraussetzungen die Weiterzahlung hätte erfolgen müssen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verpflichten, die Kindergeldrückforderung unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 27.07.2018 und der Einspruchsentscheidung vom 12.09.2018 zu erlassen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht die Beklagte sich auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.

Am 22.11.2019 wurde vor der Einzelrichterin in der Sache mündlich verhandelt und das Verfahren wurde vor dem Hintergrund der vor dem BFH anhängigen Revisionsverfahren III R 21/18 und III R 36/19 zum Ruhen gebracht. Auf das Sitzungsprotokoll wird Bezug genommen.

Nachdem durch die Entscheidungen des BFH in den Revisionsverfahren III R 21/18 und III R 36/19 die Verfahrensruhe beendet wurde, wurde der Rechtsstreit durch Beschluss der Einzelrichterin vom 16.12.2021 wegen grundsätzlicher Bedeutung auf den Senat zurückübertragen.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

 

Entscheidungsgründe

1. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gem. § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung.

2. Die Klage ist dahin auszulegen, dass sie sich gegen die Agentur für Arbeit Inkassoservice als Beklagte richtet.

Nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist die Klage gegen die Behörde zu richten, die den beantragten Verwaltungsakt ursprünglich abgelehnt hat. Aus der Bezugnahme auf den „ursprünglichen” Verwaltungsakt folgt, dass nur die A...

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