Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausbildung zur Rettungssanitäterin keine erstmalige Berufsausbildung
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Klage, die zunächst als Untätigkeitsklage erhoben wurde, wächst mit Blick auf das Fehlen eines erfolglos abgeschlossenen Vorverfahrens jedenfalls mit Erlass der ablehnenden Einspruchsentscheidung in die Zulässigkeit hinein.
2. Eine Qualifikation zur Rettungssanitäterin, die nach der einschlägigen Ausbildungs- und Prüfungsordnung nur ca. vier Monate dauert, ist nicht als Berufsausbildung i.S.d. Kindergeldrechts anzusehen.
3. Eine Berufsausbildung im einkommensteuerrechtlichen Sinne liegt nur bei einer geordneten vollzeitigen Ausbildung von mindestens zwölf Monaten Dauer mit einer Abschlussprüfung vor.
4. Die Legaldefinition des Begriffs der Berufsausbildung in § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG gilt auch für das Kindergeldrecht.
5. Nimmt das noch nicht 25 Jahre alte Kind nach einer Tätigkeit als Rettungssanitäterin ein Jurastudium auf, besteht insoweit ein Anspruch auf Kindergeld.
Normenkette
AO § 46 Abs. 1; EStG § 9 Abs. 6 S. 2, § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. a, S. 2; AO § 44 Abs. 1
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Ausbildung als Rettungssanitäterin als erstmalige Berufsausbildung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) anzusehen ist.
Die bei der Agentur für Arbeit beschäftigte Klägerin ist Mutter einer 2003 geborenen Tochter. Die Tochter absolvierte im Zeitraum Juni bis September 2021 eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin nach der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter sowie Rettungshelferinnen und Rettungshelfer (RettAPO) des Landes Nordrhein-Westfalen. Nach § 1 Abs. 1 Satz 2 RettAPO umfasst die Ausbildung mindestens 520 Ausbildungsstunden. Nach dem Ende der Ausbildung war sie in Vollzeit für den Kreis C als Rettungssanitäterin tätig. Nach der Rahmendienstvereinbarung über die Arbeitszeit im Rettungsdienst im Kreis C (im Folgenden: Arbeitszeit-Rahmenvereinbarung) betrug die wöchentliche Arbeitszeit 48 Stunden; die Arbeit bestand zum Teil aus Zeiten des Bereitschaftsdienstes. Ab dem 01.10.2022 nahm sie ein Studium der Rechtswissenschaften in D auf.
Die Klägerin stellte am 21.09.2022 bei der Beklagten (der Familienkasse X) einen Antrag auf Gewährung von Kindergeld für die Tochter bei der Familienkasse NRW E. Im Antragsformular machte die Klägerin folgende Angaben: Das Kind habe zum 25.09.2021 eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin abgeschlossen. Es sei seitdem für den Kreis C tätig, ab Oktober/November 2022 in einem Umfang von 20 Stunden pro Woche. Nachweise dazu würden nachgereicht.
Die Klägerin legte ein Merkblatt bei, auf dem sie folgende Passage unter der Überschrift „Anspruchsunschädliche Erwerbstätigkeiten sind” markiert hatte:
„Erwerbstätigkeiten, die nur vorübergehend auf mehr als 20 Stunden pro Woche ausgeweitet werden. Hier wird das Kindergeld unter bestimmten Bedingungen weitergezahlt. Bitte wenden Sie sich in solchen Fällen an ihre Familienkasse.”
Die Klägerin notierte dazu: „Bitte um Rückruf” und gab ihre Telefonnummer an.
Mit Bescheid vom 28.09.2022 setzte die Beklagte Kindergeld ab Oktober 2022 fest.
Die Klägerin teilte noch im Oktober 2022 mit dass die Tochter noch keinen veränderten Arbeitsvertrag erhalten habe, die Arbeitszeit aber ab November 2022 auf 20 Stunden reduziert werde. Im November übersandte sie ein Schreiben des Kreises C, wonach die Arbeitszeit der Tochter ab dem 01.11.2022 für die Dauer eines Jahres auf 50 % reduziert werde, und bat – wie bereits zuvor – um Rückruf. In einem weiteren Schreiben übersandte sie den Arbeitsvertrag nebst Zusätzen, unter anderem die Arbeitszeit-Rahmenvereinbarung.
Mit Schreiben vom 16.02.2023 gab die Beklagte der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme dazu, dass aus den übersandten Unterlagen hervorgehe, dass die Arbeitszeit (anders als im Antrag angegeben) 24 Stunden pro Woche betrage und ein Kindergeldanspruch deshalb nicht nachgewiesen sei.
Die Klägerin teilte mit: Die Rettungsdienste würden im Kreis C in 24 Stunden-Diensten organisiert. Eine Arbeitszeitreduzierung auf 20 Stunden könne nur erfolgen, wenn die Tochter stattdessen (im 8-Stunden-Takt organisierte) Krankenfahrten wahrnehme; dies hätte aber zur Folge, dass sie zwei bis drei Mal pro Woche von D nach C müsse anstatt einmal für einen 24-Stunden-Dienst.
Mit Bescheid vom 18.04.2023 hob die Beklagte den Bescheid vom 28.09.2022 auf und führe zur Begründung aus: Das Kind habe eine Erstausbildung abgeschlossen. Eine Ausbildung, die sich an den Erwerb eines berufsqualifizierenden Abschlusses anschließe, sei nur dann als weiterführender Ausbildungsteil der Erstausbildung zuzurechnen, wenn der erste erworbene Abschluss integraler Bestandteil einer einheitlichen Ausbildung sei. Nach Abschluss der Erstausbildung werde Kindergeld nicht mehr gewährt, wenn das Kind einer Erwerbstätigkeit mit mehr als 20 Stunden regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit nachgehe.
Am 17.05.2023 legte die Klägerin Einspruch ein u...