Karlheinz Konrad, Dr. Armin Pahlke
Rz. 60
Das Recht der Europäischen Union gilt vorrangig vor der nationalen Rechtsordnung und ist damit auch allgemein dem Steuerrecht übergeordnet, unabhängig davon, ob es sich um die Regelung einer direkten oder indirekten Steuer handelt. Aus dem primären EU-Recht und den darin geregelten Grundfreiheiten (Warenverkehrsfreiheit, Personenverkehrsfreiheit [Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit], Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit) können Bürger der Mitgliedstaaten individuelle subjektive Rechte herleiten und auch vor den Gerichten der Mitgliedstaaten durchsetzen. Verstößt eine nationale Rechtsnorm gegen EU-Recht, insbesondere gegen die Grundfreiheiten, so ist die nationale Rechtsnorm aufgrund des Vorrangs des EU-Rechts unanwendbar.
6.1 Direkte Steuern und Grundfreiheiten
Rz. 61
Während indirekte Steuern nach Maßgabe der Art. 90–93 AEUV zu harmonisieren sind, sieht der AEUV einen vergleichbaren Auftrag für direkte Steuern, zu denen auch die Erbschaftsteuer zählt, nicht vor. Nach dem Subsidiaritätsprinzip bleibt die Regelung der direkten Steuern vielmehr grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten. Der Bereich der direkten Steuern als solcher fällt beim gegenwärtigen Stand des EU-Rechts nicht in die Zuständigkeit der Europäischen Union, die Mitgliedstaaten dürfen die ihnen verbliebenen Befugnisse gleichwohl nur unter Wahrung des EU-Rechts ausüben. Dahinter steht der Grundgedanke, dass die praktische Wirksamkeit des EU-Rechts (der sog. effet utile) der Grundfreiheiten in erheblicher Weise beeinträchtigt wäre, wenn die Mitgliedstaaten mittels steuerlicher Gestaltungsfreiräume die Wirkung der Grundfreiheiten beeinflussen könnten. Die allgemeinen Bestimmungen der Grundfreiheiten schließen die Lücke, die dadurch entsteht, dass der AEUV keine Regelung dazu enthält, wie die nationalen Steuersysteme gestaltet sein müssen, um das Integrationsziel des Binnenmarkts nicht zu beeinträchtigen. Wenn sich also einzelstaatliche Rechtsvorschriften über direkte Steuern auf die Ausübung der 4 Grundfreiheiten des AEUV – freier Verkehr von Waren, Personen (insbes. Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit) und Kapital – auswirken, ist jegliche offene Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit und jede versteckte Diskriminierung Gebietsfremder gegenüber Gebietsansässigen untersagt, wenn und weil ein Differenzierungskriterium sich überwiegend und typischerweise zum Nachteil ausländischer Staatsangehöriger auswirkt. Dies gilt auch für das Erbschaftsteuerrecht.
6.2 Dreistufige Prüfung der Grundfreiheiten
Rz. 62
Die Überprüfung einer steuerrechtlichen Norm am Maßstab der Grundfreiheiten erfolgt in 3 Schritten: Ist eine Grundfreiheit betroffen? Ist die Grundfreiheit durch Diskriminierung beeinträchtigt? Ist die Beeinträchtigung gerechtfertigt?
6.2.1 Schutzbereich
Rz. 62a
Ob eine Grundfreiheit betroffen ist, ergibt sich aus dem Anwendungsbereich der jeweiligen Grundfreiheit. So ist etwa die Kapitalverkehrsfreiheit betroffen bei Erbschaften, Vermächtnissen und Schenkungen mit grenzüberschreitenden Elementen, es sei denn, die betreffenden Transaktionen weisen mit keinem wesentlichen Element über die Grenzen eines Mitgliedsstaats hinaus (vgl. hier unter Rz. 8). Während sich also wesensgemäß zu den jeweiligen Grundfreiheiten keine allgemeinen Aussagen vor die Klammer ziehen lassen, kann zur Beeinträchtigung der Grundfreiheiten und zur Rechtfertigung einer solchen Beeinträchtigung grundsätzlich Folgendes voran...