Karlheinz Konrad, Dr. Armin Pahlke
6.3.1 Erbschaft und Schenkung als Kapitalverkehr
Rz. 81
Art. 63 Abs. 1 AEUV verbietet Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten. Der AEUV enthält keine Definition des Begriffs "Kapitalverkehr". Nach st. Rspr. des EuGH gilt die Nomenklatur für den Kapitalverkehr im Anhang zu Art. 1 der Richtlinie 88/361 für die Definition des Begriffs des Kapitalverkehrs fort, wobei die in ihr enthaltene Aufzählung gemäß ihrer Einleitung nicht erschöpfend ist. In der Rubrik XI des Anhangs I der Richtlinie 88/361 werden unter der Überschrift "Kapitalverkehr mit persönlichem Charakter" Erbschaften und Schenkungen sowie Stiftungen genannt. Es sind dies Transaktionen, mit denen das Vermögen einer Person ganz oder teilweise, sei es zu ihren Lebzeiten oder nach ihrem Tod, gleichviel, ob es Geldbeträge, unbewegliche Güter oder bewegliche Güter betrifft, auf einen anderen übergeht; ausgenommen sind die Fälle, die mit keinem ihrer wesentlichen Elemente über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen, also keinen grenzüberschreitenden Sachverhalt aufweisen.
Rz. 82
Nach Art. 63 Abs. 1 AEUV sind Maßnahmen verboten, die geeignet sind, Gebietsfremde von Investitionen in einem Mitgliedstaat oder die dort Ansässigen von Investitionen in anderen Mitgliedstaaten abzuhalten, oder im Fall von Erbschaften solche Maßnahmen, die eine Wertminderung des Nachlasses dessen bewirken, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem ansässig ist, in dem sich die betreffenden Vermögensgegenstände befinden, und der deren Erwerb von Todes wegen besteuert. Verboten sind also Maßnahmen, die eine Wertminderung des Nachlasses desjenigen bewirken, der in einem anderen Staat ansässig ist als dem Mitgliedstaat, in dem sich die betreffenden Vermögensgegenstände befinden und in dem deren Erwerb von Todes wegen besteuert wird.
6.3.2 Die Bedeutung von Art. 63 AEUV
Rz. 83
Art. 63 AEUV berührt nach seinem Wortlaut nicht das Recht der Mitgliedstaaten, die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, insbesondere die Stpfl. mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich zu behandeln (Art. 65 Abs. 1 Buchst. a). Die Vorschrift ist als Ausnahme vom Grundprinzip des freien Kapitalverkehrs eng auszulegen. Sie kann nicht dahin verstanden werden, dass jede Steuerregelung, die zwischen Stpfl. nach ihrem Wohnort oder nach dem Mitgliedstaat ihrer Kapitalanlage unterscheidet, ohne Weiteres mit dem Vertrag vereinbar wäre. Insbesondere dürfen nach Art. 65 Abs. 3 AEUV die in Art. 65 Abs. 1 und 2 AEUV genannten nationalen Maßnahmen "weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs darstellen". Die Prüfung, ob eine Beeinträchtigung der Freiheit des Kapitalverkehrs gegeben ist, hat im Kern also die gleichen Voraussetzungen wie die Prüfung einer Diskriminierung bei den anderen Grundfreiheiten. Eine nationale Steuerregelung kann nur dann als vereinbar mit den Vertragsbestimmungen über den freien Kapitalverkehr angesehen werden, wenn die unterschiedliche Behandlung Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses wie die Notwendigkeit, die Wirksamkeit der steuerlichen Kontrollen zu gewährleisten, gerechtfertigt ist. Außerdem ist die unterschiedliche Behandlung nur dann gerechtfertigt, wenn sie nicht über das hinausgeht, was zum Erreichen des mit der fraglichen Regelung verfolgt...