Rz. 69

[Autor/Stand] Allgemeine Rechtsfolgen, verfassungsrechtliche und europarechtliche Bedenken. § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG führt zur Annahme einer (fiktiven) Entnahme zum gemeinen Wert (§ 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 1 Halbs. 2 EStG), d.h. der Aufdeckung sämtlicher stiller Reserven oder Lasten in den betroffenen Kapitalgesellschaftsbeteiligungen. Die Besteuerung kann unter den weiteren Voraussetzungen des § 4g EStG über die Bildung eines Ausgleichspostens über fünf Jahre zeitlich ratierlich gestreckt werden.[2] § 4g Abs. 1 EStG setzte bisher voraus, dass der Steuerpflichtige (weiterhin) in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig ist, sodass bei Wegzügen unter Aufgabe der unbeschränkten Steuerpflicht die Gewinnverteilung des § 4g EStG über fünf Jahre nach dem Wortlaut nicht zur Anwendung kommen konnte.[3] Diese Einschränkung enthält § 4g EStG i.d.F. des ATADUmsG nicht mehr.[4] Der Entnahmegewinn unterliegt unter Berücksichtigung des Teileinkünfteverfahrens[5] der Einkommensteuer und ggf. der Gewerbesteuer, ohne dass es zu einem Liquiditätszufluss beim (Mit-)Unternehmer kommt. Das ist verfassungsrechtlich bedenklich.[6] § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG kennt keine dem § 6 Abs. 3 AStG (Rückkehroption) entsprechende Regelung, so dass auch bei vorübergehenden Wegzügen die Entstrickungsbesteuerung definitiv wird. Auch eine Stundung entsprechend § 6 Abs. 5 a.F. bzw. eine Ratenzahlung über sieben Jahre nach § 6 Abs. 4 war bzw. ist nicht vorgesehen. Vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung (s. Rz. 168 ff.) stellt sich auch bei durch Wegzug ausgelöster Entstrickungsbesteuerung nach § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG die Frage der Europarechtskonformität der Besteuerung. Der EuGH hat zwar für Konstellationen der sog. gegenständlichen Entstrickung[7] die Europarechtskonformität des § 4 Abs. 1 Satz 3, § 4g EStG bejaht (s. Rz. 166). Damit ist aber noch nicht die Frage abschließend beantwortet,[8] ob der EuGH auch Wegzugsfälle natürlicher Personen, die aus deutscher Sicht unter § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG zu subsumieren sind, europarechtlich akzeptieren würde:

 

Beispiel

A ist neben einer nicht am Kapital beteiligten Komplementär-GmbH alleiniger Kommanditist der D-KG, deren Vermögen aus einer 100%igen Beteiligung an einer deutschen D-GmbH und einigen in Deutschland belegenen Immobilien besteht. Die D-KG ist gewerblich geprägt i.S.v. § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG, aber rein vermögensverwaltend tätig. A verzieht 2022 nach Österreich und wird dort unbeschränkt steuerpflichtig.

Lösung

Infolge des Wegzugs des A besteht kein deutsches Besteuerungsrecht an den Gewinnen aus der Veräußerung der Anteile an der D-GmbH mehr. Die vermögensverwaltende D-KG qualifiziert trotz ihrer gewerblichen Prägung i.S.v. § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG nicht als abkommensrechtliche Betriebsstätte i.S.v. Art. 5 DBA-Österreich, sodass nach dem Wegzug allein Österreich die tatsächlichen Veräußerungsgewinne besteuern dürfte (Art. 13 Abs. 5 DBA-Österreich). Der Verlust des Besteuerungsrechts an den Gewinnen aus der Veräußerung der Kapitalgesellschaftsanteile führt grds. zu einer fiktiven Entnahme i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG zum gemeinen Wert (§ 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 1 Halbs. 2 EStG), wonach die aufgedeckten stillen Reserven unter Berücksichtigung des Teileinkünfteverfahrens (§ 3 Nr. 40 EStG) mit Einkommensteuer und ggf. auch Gewerbesteuer[9] zu besteuern sind. Geht man – richtigerweise (s. Rz. 170) – weiterhin von dem gemeinschaftsrechtlichen Gebot aus, dass bei einem Wegzug natürlicher Personen mit im Privatvermögen gehaltenen Kapitalgesellschaftsanteilen die nach § 6 Abs. 1 ausgelöste Wegzugsteuer dauerhaft zu stunden ist, kann im Beispielsfall nichts anderes gelten, auch wenn nicht § 6, sondern § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG einschlägig ist. Die Entscheidungen in den Rechtssachen DMC und Verder Labtec stehen dem nicht entgegen.[10] Die notwendige Gleichbehandlung wird noch deutlicher, wenn man sich vorstellt, dass die Kapitalgesellschaftsanteile zivilrechtlich dem Wegzügler gehören, die Anteile aber einem Sonderbetriebsvermögen zuzurechnen sind.[11] Es ist schwer vorstellbar, dass der EuGH aus seiner rein grundfreiheitlich ausgerichteten Perspektive eine solche Konstellation anders beurteilen würde als bei Zuordnung der Kapitalgesellschaftsanteile zum steuerlichen Privatvermögen des Wegzüglers.

 

Rz. 70

[Autor/Stand] Rechtsfolgen bei Wegzug einzelner Mitunternehmer. Schwierige Rechtsfragen ergeben sich, wenn die fiktive Entnahme i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 3 EStG durch den Wegzug nur einzelner am Vermögen, Gewinn und Verlust der Mitunternehmerschaft beteiligter Gesellschafter ausgelöst wird. Dies sei an folgendem Praxisbeispiel verdeutlicht:

 

Beispiel

An der inländischen D-KG sind neben einer nicht am Kapital beteiligten Kompl.-GmbH die in Deutschland ansässigen A, B und C zu jeweils ⅓ als Kommanditisten beteiligt. Die i.S.v. § 15 Abs. 3 Nr. 2 EStG gewerblich geprägte D-KG ist Alleingesellschafterin der D-GmbH und nur vermögensverwaltend tätig. C gibt Ende 2022 seine unbeschränkte Steuerpflicht im Inland auf und verzieht ...

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