Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Wassermeyer, Dipl.-Kfm. Jens Schönfeld
1. Geschäftsleitung oder Sitz innerhalb EU/EWR
"(6) Hat eine Familienstiftung Geschäftsleitung oder Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Vertragsstaat des EWR-Abkommens, ..."
Rz. 261
Familienstiftung mit Sitz oder Geschäftsleitung in einem EU-Mitgliedstaat. Aus dem von § 15 Abs. 6 hergestellten Zusammenhang zu § 15 Abs. 1 ergibt sich zunächst, dass mit "Familienstiftung" der in § 15 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2 bis 4) verwandte Parallelbegriff gemeint ist. Es genügt, wenn die Familienstiftung ihren Sitz oder ihre Geschäftsleitung in einem EU-Mitgliedstaat hat. Es ist nicht erforderlich, dass beide Voraussetzungen in einem solchen Staat erfüllt werden. Denkbar ist deshalb, dass eine Familienstiftung ihre Geschäftsleitung in einem EU-Mitgliedstaat, ihren statutarischen Sitz aber in einem Drittstaat hat (oder umgekehrt). Anders als § 8 Abs. 2 verlangt § 15 Abs. 6 auch nicht, dass der Nachweis für bestimmte Einkünfte (im Zusammenhang mit § 15 besser: Vermögen und Einkünfte) zu erbringen ist, sodass sich die Frage nicht stellt, inwieweit das Vermögen bzw. die Einkünfte der Stiftung auf deren Geschäftsleitungsbetriebsstätte bzw. auf eine Betriebsstätte im Sitzstaat entfällt. Das Ergebnis mag verwundern, weshalb teilweise von einem Redaktionsversehen ausgegangen wird. Dies auch deshalb, weil im BMF-Schreiben v. 14.5.2008 noch verlangt wurde, dass sich Geschäftsleitung und Sitz in einem EU-Staat befinden. Letztlich ist der Wortlaut von § 15 Abs. 6 aber eindeutig. Nach dem Wortlaut muss sich der Sitz oder die Geschäftsleitung ferner in einem Mitgliedstaat der "Europäischen Union" befinden.
Rz. 262
Familienstiftung mit Sitz oder Geschäftsleitung in einem EWR-Staat. § 15 Abs. 6 erfasst auch Familienstiftungen mit Sitz oder Geschäftsleitung in einem EWR-Staat. Das am 1.1.1994 in Kraft getretene Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) wurde ursprünglich zwischen der EU und den EFTA-Staaten Liechtenstein, Österreich, Finnland, Schweden, Norwegen und Island geschlossen. Die Schweiz hatte das EWR-Abkommen ebenfalls unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert. Mit dem Beitritt Österreichs, Finnlands und Schwedens zur EU am 1.1.1995 entfaltet das EWR-Abkommen nur noch im Verhältnis zu den Nicht-EU-Mitgliedstaaten Liechtenstein, Norwegen und Island eine entsprechende Relevanz. Die Einbeziehung von EWR-Staaten in § 15 Abs. 6 war sachlich geboten, weil das EWR-Abkommen nach der Rspr. des EuGH mit den vier EU-Grundfreiheiten im Wesentlichen vergleichbare Freiheiten enthält.
Rz. 263
Nicht-EU/EWR-Staaten. Aus der Begrenzung des Tatbestands auf bestimmte Staaten folgt im Umkehrschluss, dass § 15 Abs. 6 im Verhältnis zu Drittstaaten keine Anwendung finden soll. Die Zulassung des Gegenbeweises (entweder analog § 15 Abs. 6 oder nach der Rspr. des EuGH) kann sich hier aber gleichwohl auf Grundlage eines Assoziierungsabkommens (dazu unter Rz. 269 f.) oder von Art. 63 EG (Kapitalverkehrsfreiheit) (dazu unter Rz. 264 ff.) ergeben.
Rz. 264
Anwendung der Kapitalverkehrsfreiheit im Verhältnis zu EU/EWR-Drittstaaten. Die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 AEUV ist die einzige Grundfreiheit, die nach ihrem klaren Wortlaut auch im Verhältnis zu Drittstaaten, d.h. im Verhältnis zu Nicht-EU/EWR-Staaten, einen umfassenden Schutz entfaltet. Inhalt und Reichweite dieses Schutzes war bereits mehrfach Gegenstand von Entscheidungen des EuGH. Die wesentlichen Fragen erscheinen geklärt. Jedenfalls sieht sich der BFH in der Lage, über die Vereinbarkeit von deutschen Steuernormen mit der Kapitalverkehrsfreiheit unter Berufung auf die CILFIT-Doktrin des EuGH zu entscheiden, ohne diesen im Vorabentscheidungswege gem. Art. 267 AEUV mit der Streitfrage zu befassen. Der EuGH war in der Vergangenheit auch sehr großzügig, was das Verständnis der unter Art. 63 AEUV zu fassenden Kapitalverkehrsvorgänge anbelangt. Dazu sollten eben nicht nur grenzüberschreitende Transaktionen von Zahlungsmitteln gehören, sondern auch unternehmerische Engagements in Form von Direktinvestitionen. Innerhalb der EU ist dieses weite Verständnis auch unproblematisch, weil in letzterem Fall alternativ auch die Niederlassungsfreiheit zum Tragen käme. Im Verhältnis zu Drittstaaten kann man dies aber auch kritisch beurteilen, weil dadurch solche Staaten in den Genuss der wirtschaftlichen "Segnungen" der liberalen Marktfreiheiten des AEUV gelangen können, die selbst den Bindungen des AEUV i.S. einer Reziprozität nicht unterliegen. Augenscheinlich vor diesem Hintergrund war der EuGH bemüht, die Schutzwirkung der Kapitalverkehrsfreiheit im Verhältnis zu Drittstaaten zumindest etwas einzuschränken. Er entwickelte hierzu beginnend mit Fidium Finanz eine Doktrin, wonach die Kapitalverkehrsfreiheit hinter eine andere (im Verhältnis zu Drittstaaten nicht anwendbare) Grundfreiheit zurücktreten soll, wenn die Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit lediglich die "zwangsläufige Folge" der Beschränkung einer anderen Grundfreiheit ist. So war es etwa in d...